Kolumne Gotteskind und Satansbraten

Sind Kinder und Jugendliche nicht wichtig genug?

Fünf Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie schaut Deutschland kritisch zurück. Was haben Kinder und Jugendliche in dieser Zeit erleben müssen – und werden wir für die Zukunft aus unseren Fehlern klug?

Vor fünf Jahren gingen wir das erste Mal in einen Lockdown. Wenn wir uns heute anschauen, welche Auswirkungen die Pandemie-Zeit auf Kinder und Jugendliche hatte, bestätigt sich leider, was damals, zu Beginn all der Maßnahmen, nur wenige laut gesagt haben.

Die meisten von uns – ich eingeschlossen – sind hochgradig naiv in diesen ersten Lockdown gestolpert. „Wird schon wieder“, haben wir gedacht. „Wir machen das jetzt ein paar Wochen und dann ist dieses neue Virus unter Kontrolle und wir leben unser Leben weiter.“ „Ist doch toll, drei Wochen länger Osterferien, endlich mal Zeit zum Pflanzen vorziehen und Japanisch lernen.“

Doch aus ein paar Tagen wurden mehr als drei Wochen. Über Monate hinweg waren Schulen, Kitas und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche geschlossen. Aus der erhofften Zeit für Schönes wurde ein täglicher Kampf zwischen Homeoffice und Schulaufgaben, die wir allein und ohne Unterstützung mit den Kindern bewältigen mussten. Bewegungsmangel und soziale Isolation kamen also Probleme hinzu. Und das Schlimmste: Es blieb nicht bei diesem ersten Lockdown, es folgten weitere Zeiten der Schul- und Kitaschließungen.

Je nach Bundesland und Schulform gab es Schüler:innen, die über viele Monate hinweg Distanzunterricht „besuchen“ mussten. Und auch die Zeiten dazwischen, in denen Präsenzunterricht stattfand, hatten nichts mit normaler Kinder- und Jugendkultur zutun. Eltern lernten unter hohem Druck was „Regelbetrieb“ und „eingeschränkter Regelbetrieb“ bedeuteten. Schule mal „präsentisch“, digital oder hybrid. Welche Schutzmaßnahmen in den Einrichtungen gerade galten, war ständigen Updates unterworfen. Abstandsregeln, Masken, geteilte Klassen, Schichtbetrieb während der Hofpausen. Der Wegfall von allem, was Schule neben Stoffvermittlung auch ausmacht, wurde über Jahre zum Alltag: Das „neue Normal“ für Kinder und Jugendliche.

Sicher hat sich über die Pandemie-Jahre hinweg vieles immer wieder geändert. Heute erinnere ich mich an die erste Corona-Phase im Frühjahr 2020 zurück: Das Leben in Sportvereinen fand nicht statt, Instrumente durften nicht gespielt werden, Gruppentreffen und Kindergeburtstage wurden abgesagt, die (Ur-)Oma starb derweil allein im Pflegeheim.

Was verloren gegangen ist

Junge Menschen, die als Kinder in diese Pandemie gestartet waren, sind als Jugendliche wieder aus ihr herausgekommen – ohne jemals eine Sozialisation in ihr Jugendalter hinein erlebt zu haben. Ohne eine schrittweise Ablösung aus dem Elternhaus und ohne eine Hinwendung zur Peer-Group. Ohne Nachmittage auf dem Skaterplatz. Ohne die erste Schwärmerei, heimliches Knutschen oder Liebeskummer auf der Klassenfahrt. Ohne Geheimnisse, die man nur mit den Besties teilt und ohne, dass man es sich erlauben konnte, Mama, Papa und Geschwister so richtig blöd zu finden.

Fünfklässler:innen wurden zu Siebklässler:innen, ohne gelernt zu haben, wie der Alltag auf einer weiterführenden Schule funktioniert, ohne selbständig Mappen geführt und Hausaufgaben organisiert zu haben, ohne mal an der losen Blättersammlung im Ranzen verzweifelt zu sein – und ohne sich das letzte bisschen Kindheit mit den Klassenkamerad:innen auf dem Schulhof auszutoben. Sie lernten zweite Fremdsprachen, ohne je die erste im Klassenraum gesprochen zu haben. Machten Musikunterricht, ohne je gemeinsam gesungen zu haben. Sie sollten alle Schulregeln kennen und sich in der Mensa benehmen, die sie doch kaum je zuvor besucht hatten. Sie sollten mitten im hormonellen Chaos ihres Gehirns Verhaltensnormen umsetzen, die sie nie praktisch eingeübt hatten.

Abschlussklassen sollten Prüfungen auf einem Niveau schreiben, das sie zu Hause vor dem Bildschirm nicht erreichen konnten. Und manche der Jugendlichen – wie bitter – gingen aus der Schule heraus und ins Berufsleben, ohne dass dieser Übergang je würdig gefeiert wurde.

Die Folgen der Pandemie-Jahre nicht verdrängen

Ich könnte noch seitenweise weiterschreiben, über all das, was unseren Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie genommen wurde und über den Stress, die Überforderung, die Angst, den Druck und all das, was wir Eltern in diesen Jahren durchgemacht haben.

Ich könnte eine ganz eigene Kolumne darüber schreiben, wie Kinder- und Jugendliche und all diejenigen, die sie begleiten (Eltern, Lehrkräfte, Sozialarbeiter:innen, usw.), im Umgang mit den Spätfolgen der Corona-Pandemie allein gelassen werden. Ich könnte über fehlende Lehren aus den Pandemiejahren schimpfen, über zu wenig Therapieplätze, das Versickern von Fördermittel und so manche sinnentleerte Maßnahme. Aber eigentlich wissen das die meisten längst. Viele von uns sind ja genau in diesem Hamsterrad noch immer gefangen.

Die Pandemie ist vorbei?! Ihre Folgen sehen nur noch die, die nah dran sind an jungen Menschen: An denen, die sich kaum noch im Real Life treffen; an den Zimmerhocker:innen; an denen mit Angststörungen; an denen, die nun „auffällig“ sind; an denen, die den Schulstoff niemals aufholen werden; an denen, die zu lange allein gelassen wurden mit all ihren Gefühlen, Gedanken und Fragen.

Doch wie konnte das eigentlich passieren? Vorab: Ganz Europa muss sich noch immer mit den Spätfolgen dieser Zeit auseinandersetzen und doch gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern – und Deutschland hat seine jungen Menschen weniger gut als andere Länder durch die Pandemie bekommen. Woran liegt das? Ich möchte behaupten: Am grundsätzlichen deutschen Blick auf junge Menschen und ihre Anliegen und Interessen.

Was sind uns Kinder und Jugendliche eigentlich wert?

Ich möchte dies an einem sehr einschneidenden Beispiel verdeutlichen: Als sich im Frühling und Sommer 2020 die ersten größeren Corona-Ausbrüche in Kitas und Schulen zeigten und Kinder massenhaft in Quarantäne geschickt wurden, versendeten deutsche Behörden Schreiben, in denen die Erziehungsberechtigten aufgefordert wurden, ihre Kinder 14 Tage lang vom Rest des Haushalts zu isolieren. Sie sollten nach Möglichkeit nicht mit der Familie am Tisch sitzen, bloß nicht mit anderen Haushaltsmitgliedern in einem Zimmer schlafen. Betreuungspersonen, die sie mit Essen versorgten, sollten Masken tragen und nach Möglichkeit Abstandsregeln einhalten.

In Dänemark bekamen Eltern zur selben Zeit Briefe, in denen ihnen erklärt wurde, wie wichtig es sei, ihren Kindern in dieser Ausnahmesituation beizustehen, sie nicht aus Angst vor einer Ansteckung zu isolieren und ihnen Nähe und Trost zu spenden.

Nun muss man fairerweise sagen, dass es gegen die typisch deutsche Behördenkommunikation, die in unserem Bildungssystem nach wie vor vorherrschend ist, von Anfang an nicht nur von jenen Widerstand gab, die sich in dieser Krisenzeit – sagen wir mal – „ganz speziell“ verändert haben, sondern auch aus dem Mainstream. Gleichzeitig gab es aber genug Erwachsene, die diesen Weg richtig fanden und verteidigten – und Eltern, die ihn umsetzten. Es zeigte sich die gesellschaftliche Unfähigkeit, sich in Kinder- und Jugendliche hineinzuversetzen, gepaart mit dem immer noch im deutschen Denken sehr präsenten Gedanken, dass „Kinder da eben durchmüssten“ oder „sich nicht so anstellen sollten“.

In den Jahren der Pandemie hat sich an vielen Stellen gezeigt, dass Deutschland es bis heute nicht geschafft hat, die über Generationen hinweg tief verankerten negativen Glaubenssätze über Kinder- und Jugendliche aufzubrechen. Es ist in unserer Gesellschaft bis heute nur teilweise gelungen, ein Klima zu schaffen, in dem Heranwachsende als erstes bedacht werden. Wir nehmen Kinder- und Jugendliche und ihre Belange nicht so ernst wie all das, was uns Erwachsene umtreibt. Wir spielen ihre Sorgen und Nöte herunter und wollen viel zu oft, dass sie uns in unserem Alltag nicht stören. Man soll sie sehen und nicht hören.

Sie sollen später mal genügend Rente erwirtschaften, aber vorher bitte nicht krank werden – und damit Mütter und Väter vom Arbeitsmarkt fernhalten. Sie sollen die Zukunft auch der Kirche sein, aber ihr Weinen bitte nicht den Gottesdienst stören (dazu: „Eule-Podcast Q & R“ mit Daniela). Sie sollen die Wirtschaft später durch Konsum und Arbeitskraft am Laufen halten, aber bitte vorher nicht bemerkbar in Restaurants, Geschäften oder Hotels in Erscheinung treten. Sie sollten sich in der Pandemie zum Wohle Weniger, vor allem Älterer, zurücknehmen. Und sie sollen heute „nach Corona“ bitte weiterfunktionieren, als sei nie etwas gewesen.

Eule-Podcast Q & R mit Daniela Albert

Wie können Kinder und Erwachsene gut miteinander Gottesdienst feiern? Wieviel Medienzeit ist für Kinder angemessen? Was sind Tradwifes – und geraten Familien mit konservativen Werten wirklich ins Hintertreffen? Im „Eule-Podcast Q & R“ beantwortet Eule-Kolumnistin Daniela Albert Fragen aus der Leser:innen- und Hörer:innenschaft.

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Werden wir aus unseren Fehlern klug?

Wie Christian Drosten erst vor kurzem im „Corona-Bilanz“-Interview beim ORF erklärt hat, stellte sich für die Politik in den Jahren 2020 und 2021 immer wieder die Frage, was Vorrang genießen sollte: Die Wirtschaft und damit die Erwerbstätigkeit der Erwachsenen oder das Wohl der Kinder und Jugendlichen und damit ein präsentischer Schul- und Kita-Alltag. Das Infektionsgeschehen angetrieben haben geschlossene Orte, an denen viele Menschen auf einen Schwung gemeinsam aufhielten, nämlich zu jeder Zeit der Pandemie. Egal wie alt die Menschen waren, die dort beisammen waren.

Immer wieder erhielt das Wirtschaftsleben den Vorzug vor den Kindern und Jugendlichen. Es war und bleibt eine Abwägungsfrage, ob unsere Politiker:innen hier klug gehandelt haben. Ich finde, diese Frage gehört zu einer gründlichen Nachbetrachtung der Pandemiezeit ebenso dazu wie eine Selbstkritik der Kommunikation der Erwachsenen. Wie Christian Drosten im ORF-Interview anmerkt, wurde nämlich nicht ausreichend deutlich gemacht – und wird heute nicht ausdrücklich wertgeschätzt -, dass junge Menschen aus Solidarität und Sorge um die Älteren die Lasten der Pandemie tragen mussten.

Wenig Berücksichtigung fanden in den Pandemiejahren entwicklungspsychologische Gesichtspunkte, Bindungsthematiken, der Zusammenhang zwischen Stress und Gewalt gegen Kinder, die Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen, die Bedeutung sozialer Faktoren für ein gesundes Aufwachsen – und so viel mehr …

Doch ehrlicherweise ist das nicht nur während der Pandemie der Fall, sondern seit ich denken kann. Wir wissen mittlerweile so viel darüber, wie Kinder zu emotional kompetenten, empathischen und resilienten Persönlichkeiten heranwachsen können. Wir wissen, wie Schule anders Bildung vermitteln und weniger sozial ungerecht sein könnte. Wir wissen, wie wir Familien stärken und das Aufwachsen friedlicher und liebevoller machen könnten. Wir wissen, wie gute Frühförderung, handlungsfähige Jugendhilfe und echte Teilhabe aussehen könnten. Allein, wir setzen es nicht um! Eine herrscht eine Mischung aus Sparen am falschen Ende, Desinteresse und Ideologie. Seit Jahrzehnten werden nachhaltige Veränderungen blockiert, die doch zum Wohle von uns allen wären.

Rund um den 5. Jahrestag des Pandemie-Ausbruchs in Deutschland wird viel darüber geredet, was wir zukünftig anders machen würden, käme es wieder zu einer solchen Ausnahmesituation. Ich fürchte, wir würden einfach nur andere Fehler machen, aber letztlich die Jugend wieder vor den Bus werfen. Die Mehrheit der Erwachsenen ist weder willig noch in der Lage, sich in Heranwachsende hineinzuversetzen und in ihrem Sinne zu handeln.

Ein Wort in eigener Sache

Die Kolumne „Gotteskind und Satansbraten“ haben wir vor (fast) fünf Jahren im April 2020 begonnen, in der Anfangszeit der Corona-Pandemie. All die Jahre über war es mir ein Anliegen, Familien und ihre Belange innerhalb und außerhalb der Kirchenbubble sichtbar zu machen. Ich habe Diskussionen angestoßen und die eine oder andere Kontroverse. Ich habe für Themen Aufmerksamkeit geschaffen, die sonst – auch im liberalen und progressiven Kirchenspektrum – hinten runtergefallen wären.

Ich wurde in Gemeinden eingeladen und habe mit Philipp, Michael und Carlotta immer wieder „Eule-Podcast“ diskutiert (von 2021 bis 2024: hier, hier, hier, hier, hier & hier). Ich habe in dieser Zeit vier Bücher veröffentlicht, tolle Menschen kennengelernt und bin mit Themen in Kontakt gekommen, für die ich mich ohne die Eule nicht interessiert hätte. Dafür bin ich sehr dankbar!

Gesamtgesellschaftlich haben wir uns in diesen fünf Jahren weniger weit entwickelt, als ich mir gewünscht hätte. Ich denke, das wird in meinem heutigen Text deutlich. Deshalb werde ich auch nicht aufhören, meinen Finger in Wunden zu legen, für die Belange von Familien einzutreten, unangenehme Thesen in den Raum zu stellen.

Allerdings werde ich das nur noch ein weiteres Mal, nämlich im April, als Kolumnistin der Eule tun. „Gotteskind und Satansbraten“ ist die am längsten laufende Kolumne des Magazins – und wir haben uns darauf geeinigt, das fünf Jahre genug sind. Ich werde Platz in der Eule für neue Themen und Sichtweisen und Platz in meinem Leben für das Weiterkämpfen an anderen Stellen machen. Ich danke meiner treuen Leser:innenschaft, dass ihr fünf Jahre an meiner Seite geblieben seid!


Alle Ausgaben der Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert in der Eule.


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