Tone policing – Die #LaTdH vom 5. März

Die deutschen römisch-katholischen Bischöfe streiten sich in Dresden untereinander und mit Rom. Außerdem: Vom Sockel gerutschte Lichtgestalten, Missbrauch geistlicher Autorität und Religionskunde zum Fürchten.

Herzlich Willkommen!

„Viele Menschen in Deutschland suchten während Corona vermehrt nach dem Sinn des Lebens, aber nur eine Minderheit fand Orientierung durch Religion“, stellt der Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann-Stiftung fest. Die Pandemie und ihre Bekämpfung ist deutlich in den Hintergrund getreten. Ihre Folgen für die Gesellschaft hier und anderswo werden uns aber noch eine ganze Weile beschäftigen. Nur 29 % der Befragten in Deutschland nahmen die Religion als wichtigen Bereich ihres Lebens wahr, um die Corona-Pandemie zu bewältigen. Mit Blick darauf, dass sich doppelt so viele Menschen einer Religionsgemeinschaft zurechnen, ist das schon ein herbes Ergebnis.

Unter dem Titel „Religion als Ressource der Krisenbewältigung?“ (PDF) legen Yasemin El-Menouar (@YaseminMenouar), Carolin Hillenbrand (@CarolinHillenb1) und Detlef Pollack (@DetlefPollack) eine Analyse der Religionsmonitor-Befragung zu Corona vor. Das ist im Nachgang der Hochphasen der Pandemie zugleich unzeitig und wertvoll. El-Menouar, Senior-Expertin für Religion, Werte und Gesellschaft der Bertelsmann-Stiftung, hält fest:

„In der Coronapandemie haben sich die Menschen vor allem an der Wissenschaft orientiert. Religiöse Strukturen wie Gemeinden in der Nachbarschaft können aber ebenfalls eine wichtige soziale Ressource sein – das zeigt der Religionsmonitor sehr deutlich.“

Wie wichtig religiöse Institutionen und Strukturen den Menschen während der Pandemie-Jahre sein konnten, hängt in erheblichem Maße davon ab, wie nah ihnen Vertreter:innen ihrer Religion denn in ihren Lebensvollzügen waren. Ich erinnere mich gerne an die vielen kreativen analogen und digitalen Partizipationsmöglichkeiten, Seelsorge-Angebote und frommen Aktionen. Die fanden aber eben nicht überall statt.

Warum eigentlich nicht? Was hat an einem Ort Haupt- und Ehrenamtliche dazu frei gemacht und darin bestärkt, nah bei den Menschen in ihrer Umgebung Kirche unter Pandemie-Bedingungen zwar ganz anders als gewohnt, aber ebenso (oder noch mehr) zugewandt zu leben? Was hat andernorts Haupt- und Ehrenamtliche gelähmt erstarren lassen? Danach zu fragen, könnte unbequeme Antworten produzieren, die aber für die Zukunft der Kirchen hierzulande von entscheidender Bedeutung sind.

Am morgigen Montagabend, den 6. März 2023 um 20 Uhr, laden wir zum ersten Eule-Live-Event in diesem Jahr ein: Unter dem Titel „Im Westen nichts Neues?“ diskutieren wir mit Professor Georg Plasger von der Universität Siegen und Dr. Samuel Shearn von der Universität Rostock darüber, was der Krieg mit der Theologie macht. Die Theologie reagiert auf Krisen und Kriege, besonders heftig nach dem 1. Weltkrieg. Was lässt sich daraus für heute lernen? Diese und andere Fragen wollen wir gerne mit Euch diskutieren! Sei dabei!

Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein


Debatte

In dieser Woche trafen sich die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz (DBK, @dbk_online) in Dresden zu ihrer Frühjahrs-Vollversammlung. Auf der Tagesordnung standen neben dem Ukraine-Krieg (Erklärung als PDF) und dem Missbrauch geistlicher Autorität (s. „nachgefasst“) vor allem die Bewältigung der jüngsten Dialogerfahrungen mit dem Vatikan und die Vorbereitung der 5. und letzten Synodalversammlung des Synodalen Weges, die vom 9. bis 11. März in Frankfurt (Main) stattfinden wird (die Eule wird aus Frankfurt berichten). Wie üblich stellt die DBK einen ausführlichen Pressebericht (als PDF) zur Verfügung, in dem alle offiziell bearbeiteten Themen Erwähnung finden.

DBK-Vollversammlung: Ringen um Reformen vor dem synodalen Showdown – Steffen Zimmermann (katholisch.de)

Eine gründliche Zusammenfassung der Frühjahrs-Vollversammlung bietet Steffen Zimmermann bei katholisch.de (@katholisch_de). Was bedeuten die zahlreichen vatikanischen Stopp-Schilder (zuletzt vom Apostolischen Nuntius Erzbischof Nikola Eterovic) für die Beratungen der Bischofskonferenz – und die letzte Synodalversammlung? An die soll sich ja eine dreijährige Phase des sog. Synodalen Ausschusses anschließen, der nicht zuletzt das Prozedere eines neuen sog. Synodalen Rates festlegen soll. Genau dagegen richten sich die Bemühungen der Konservativen und das mehr als deutliche „Nein“ des Vatikans.

Wie sehr der Synodale Weg und insbesondere die Pläne für den Synodalen Rat das Verhältnis zwischen der Kirche in Deutschland und dem Vatikan derzeit belasten, zeigte sich in Dresden wie unter einem Brennglas beim traditionellen Grußwort des Apostolischen Nuntius Erzbischof Nikola Eterovic. Darin erklärte er den Bischöfen, dass er von Amts wegen beauftragt worden sei, das vatikanische Schreiben aus dem Januar zu präzisieren. Nach „richtiger Auslegung des Inhalts dieses Schreibens“ könne „nicht einmal ein Diözesanbischof einen synodalen Rat auf diözesaner oder pfarrlicher Ebene errichten“. War das nach vielen gelben und dunkelgelben endgültig die Rote Karte aus dem Vatikan für den Synodalen Rat?

Die vatikanischen Signale erstaunen auch deshalb, weil es in einigen Diözesen seit vielen Jahren Instrumente der Mitbestimmung gibt (s. Rottenburger Modell). Bischof Georg Bätzing (Limburg), der Vorsitzende der DBK, hält darum weiterhin ein Missverständnis zwischen den synodal-bewegten deutschen Bischöfen und dem Vatikan für möglich. Dem steht gleichwohl ein großes Einverständnis derer gegenüber, die in Rom, Köln, Augsburg, Eichstätt, Regensburg und Passau zumindest Zweifel, wenn nicht Ablehnung hegen. Ihnen war Eterovic abermals ein effektives Sprachrohr.

Den Brief, mit dem die (Erz-)Bischöfe Rudolf Voderholzer (Regensburg), Gregor Maria Hanke (Eichstätt), Bertram Meier (Augsburg), Stefan Oster (Passau) und Rainer Maria Woelki (Köln) die (vor-)letzte deutliche Klarstellung aus Rom provozierten (wir berichteten), haben ihre Brüder im Bischofsamt übrigens immer noch nicht zu Gesicht bekommen, sondern nur eine (vermutlich wortreiche) Erzählung seiner Genese von Bischof Oster zu hören. Allerdings wurde nun der Antwortbrief Bätzings (PDF) in Richtung Rom bekannt.

ZdK und Vatikan: Zwei Welten begegnen sich – nicht – Ludwig Ring-Eifel (KNA, katholisch.de)

In seiner Antwort bittet Bätzing nicht nur um ein erneutes Vorsprechen in Rom, sondern auch – für katholische Verhältnisse – explizit darum, dass an den Gesprächen die VertreterInnen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK, @zdkonline) teilnehmen dürfen, die im Präsidium des Synodalen Weges sitzen. Das sind ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp und Vizepräsident Thomas Söding (@ThomasSoeding).

Der Vatikan-Chefkorrespondent der Katholischen Nachrichten-Agentur (@KNA_Redaktion), Ludwig Ring-Eifel (@LudwigRingEifel), beschreibt in diesem Artikel die kommunikative Missstimmung zwischen ZdK und Vatikan, die doch eine Menge darüber aussagt, wes Geistes Kind die Herren im Vatikan so sind:

In Vatikankreisen wird inzwischen unverhohlen davon gesprochen, dass man nur noch das Ende des Synodalen Wegs abwarten müsse, dann werde sich das Problem von selbst erledigt haben. Die vom ZdK angestrebte und von einer Mehrheit in der DBK unterstützte „Verstetigung“ des Wegs in einem aus Laien und Bischöfen gemischten „Synodalen Ausschuss“ oder „Rat“ werde Rom zu verhindern wissen. Nach dem Ende des Synodalen Wegs werde man dann gerne auch wieder mit dem ZdK-Präsidium sprechen – dort, wo es hingehöre: in der Vatikan-Behörde für Laien und Familie.

Alle an ihrem Ort und Platz und bitte nicht weiter stören: Das dürfen sich die ZdK-Lai:innen, so ihnen noch etwas an ihrer Selbstachtung liegt, natürlich nicht bieten lassen. Darum schaut der deutsche Katholizismus durchaus gespannt nach Frankfurt (Main) auf die 5. Synodalversammlung des Synodalen Weges. Kommt es zum Eklat? Welche Dokumente werden von Bischöfen und Lai:innen gemeinsam beschlossen?

Vor Frankfurt

Ich bin als lutherischer Christ schon sehr gespannt auf meine erste katholische Synodalversammlung live vor Ort. Bisher habe ich – Corona dies das – nur am Bildschirm verfolgen können, wie die katholischen Geschwister Synodalität ganz praktisch üben. Auf das letzte Plenum des Synodalen Weges richten sich viele unterschiedliche Erwartungen:

Julia-Maria Drevon wünscht sich in der Herder Korrespondenz (@HK_Aktuell) mit einem Rückgriff auf einen ur-alten Text von Joseph Ratzinger, dass die Kirche nicht nur nach „Strukturen“ und „Politik“ frage, sondern viel grundsätzlicher danach, wo es mit ihr hingehe. Ob Ratzinger dafür die richtigen Antworten bereithält? Der Katholisch-Theologische Fakultätentag (KThF) verteidigt in Person seines Vorsitzenden Dirk Ansorge hingegen abermals den Synodalen Weg – und natürlich die reichliche Mitarbeit der akademischen Theologie:

Ansorge kündigte an, dass die deutsche katholische Theologie auch weiterhin ihre Stimme einbringen werde: „Dazu gehört auch ein Hinhören auf die vielfältigen Stimmen in der Weltkirche, und dazu gehört eine gemeinsame Unterscheidung der Geister.“ Die Theologie in Deutschland fühle sich angesichts ihrer weltweiten Verflechtungen, ihrem internationalen Ansehen und ihrer wissenschaftlichen Expertise verantwortlich für die ganze Kirche.

So viel theologisches Selbstvertrauen wie von römisch-katholischen Theolog:innen auf dem Synodalen Weg hat mich in den vergangenen Jahren kaum irgendwo sonst angeweht. Ob das in einer guten Korrelation zur Bedeutung (katholischer) Theologie in Gesellschaft und Ökumene steht? Das Ausscheiden von vier (mindestens) konservativen Teilnehmerinnen aus der Weggemeinschaft (sic!) hält Dana Kim Hansen-Strosche online bei der Herder Korrespondenz für eine „Klatsche für den Synodalen Weg“:

Der BDJK-Vorsitzende Gregor Podschun sieht im verkündeten Ausstieg „ein erneutes Mittel sich selbst als Opfer darzustellen“. Doch egal wie man zu den vier Protagonistinnen aus dem konservativen Lager und deren Positionen stehen mag: Ihr Rückzug kurz vor dessen Abschluss ist eine herbe Klatsche für das Reformprojekt und sollte alle Beteiligten zum Nachdenken anregen. Denn es ist nicht gelungen, mit allen gemeinsam in der Sache zu diskutieren.

Nach den vier Frauen verabschiedete sich Anfang der Woche auch der Bonner Stadtdechant und George Clooney des deutschen Katholizismus Wolfgang Picken erneut vom Synodalen Weg. Zuvor hatte er schon die Mitarbeit im Synodalforum zu Macht niedergelegt und ließ es, wie andere Teilnehmer:innen der Eule berichten, seit der 1. Synodalversammlung sowieso an Präsenz vermissen. Beim hauseigenen Domradio (@domradio) beklagt Picken, seine Anliegen seien nicht ausreichend zu Wort gekommen. Wenn man sich anschaut, wie z.B. der konservative Passauer Bischof Stefan Oster auf dem Synodalen Weg auftritt und spricht, fällt es schwer, Pickens Einschätzung der Lage eine sonderlich hohe Bedeutung beizumessen.

Als doppelt oder dreifach Außenstehender schlage ich vor, für den Synodalen Weg die Maßstäbe anzulegen, wie sie in der „Kirche der Synodalität“ von Papst Franziskus wichtig sein sollen: Dem Papst scheint das gemeinsame Gehen und Aushalten von Konservativen und Progressiven ein besonderes Anliegen zu sein. Vermutlich in der Hoffnung, Differenzen würden sich dann irgendwie in Luft auflösen. Synodale Wege als Utopie?

Ganz sicher verlangt das gemeinsame Gehen auf dem Synodalen Weg auch den Progressiven eine Menge ab. Kurz vor der letzten Synodalversammlung ist es ausgerechnet der von Reformer:innen geschätzte Bischof von Hildesheim Heiner Wilmer, der sie zur Ordnung ruft. Anders als ein – sicher lieb gemeintes – tone policing, also eine bewusste oder unbewusste Diskussionsstrategie, bei der nicht auf den Inhalt des Gesagten eingegangen wird, sondern vielmehr der Tonfall einer Person zum Gegenstand der Diskussion wird, kann man seine Einlassungen (Zusammenfassung beim Domradio) wohl kaum verstehen.

„Ich bin unbedingt für eine Erneuerung. Wir müssen weiterkommen. Wir sind aber zu ungeduldig“, erklärte er. „Uns fehlt in Deutschland mitunter etwas der lange Atem. Es fehlt manchmal die Bereitschaft anzuerkennen, dass nicht alles innerhalb der eigenen Lebensspanne umgesetzt werden kann.“

Die katholische Kirche liefert sich also ein „Wettrennen“ mit der Deutschen Bahn, um die zügige Umsetzung von Reformwünschen. Dort soll erst 2070 der sog. Deutschlandtakt umgesetzt sein. Nur zum Vergleich: Die evangelischen Kirchen wollen da schon mindestens 25 Jahre klimaneutral sein. Ein Verbrennermotor wird dann sicher nicht mehr auf deutschen Straßen röhren. In Frankfurt wird – wenn auch sicher nicht endgültig – entschieden, in welchen Takt die katholische Kirche in Deutschland einfällt: Den vatikanischen Slow Dance, den Tango Argentino des Papstes oder eine zünftige Polka?

nachgefasst

Missbrauchsstudie Bistum Mainz

In dieser Woche wurde die Missbrauchsstudie für das Bistum Mainz vorgestellt. Auf über 1.000 Seiten werden Taten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung seit 1945 im Verantwortungsbereich des Bistums (PDF) beschrieben. Weiteres Material für die Öffentlichkeit hält Rechtsanwalt Ulrich Weber auf seiner Website bereit.

Für die Zeit seit 1945 wurden 181 Beschuldigte und 401 Betroffene ermittelt. Diese Zahlen beruhen auf Akten- und Archivmaterial sowie auf 246 persönlichen Gesprächen und Korrespondenzen mit Betroffenen, Wissensträgern, Verantwortlichen und Beschuldigten,

.. berichtet Ruth Lehnen in der Kirchenzeitung des Bistums. Ganz kurz kommentiert Daniel Deckers in der FAZ vor allem das Versagen des ehemaligen Mainzer Bischofs Kardinal Karl Lehmann, einer Lichtgestalt der deutschen Katholik:innen:

In der fast drei Jahrzehnte währenden Amtszeit von Bischof Karl Lehmann ging es keinen Deut besser zu als andernorts auch. Zwar hatte der Kardinal und langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz anders als sein Kölner Widersacher Joachim Kardinal Meisner zeitlebens nie behauptet, nichts geahnt zu haben. Aber wie sich nun gezeigt hat, waren die Vertuschungs-, Verdrängungs- und Verleugnungsmuster dieselben wie in Köln und auch bei seinen Mitstreitern Kamp­haus (Limburg), Bode (Osnabrück) oder Zollitsch (Freiburg).

Wie aber heute als Katholik leben mit dem sicheren Wissen über das systemische wie persönliche Versagen ganzer Bischofsgenerationen gegenüber Verbrechen und Verbrechern in ihrem ureigenen Verantwortungsbereich? Wie reagieren angesichts der moralischen Lethargie, mit der noch heute schale Aufarbeitungs- und Anerkennungskonzepte zu Fortschrittserzählungen umgedeutet werden?

Sehr viel ausführlicher widmet sich Felix Neumann (@fxneumann) auf katholisch.de den Ergebnissen der Studie und der Lichtgestalt Lehmann: „Alles für die Kirche, nichts für Opfer“:

Die wichtigste Maßnahme für Lehmann war die Verhinderung von Anerkennungsleistungen oder gar Schadensersatzzahlungen. In seiner Kirchenzeitung schrieb der Kardinal 2010, dass er davon überhaupt nichts halte. Zum einen verneint er die institutionelle Verantwortung für individuelle Taten, zum anderen sieht er die ethische Dimension der Folgen für die Opfer nicht durch monetäre Zahlungen kompensierbar, gibt die Studie den Bischof wieder. In einem Schreiben an die DBK wird er noch deutlicher: „Eine große Verführung ist die Versuchung, begangenes Unrecht finanziell zu entschädigen. Dies darf nicht geschehen. Man darf sich überhaupt nicht auf die Diskussion einlassen“, zitiert die Studie.

„Heilige Scheu“ bei Ermittlungen gegen die Kirche? – Veronika Wawatschek, Miriam Garufo (BR24)

Im Nachgang der Untersuchungen der Staatsanwaltschaft beim Erzbistum München und Freising beschäftigen sich Veronika Wawatschek (@PendaAndika) und Miriam Garufo beim Bayerischen Rundfunk mit der Frage, warum Staatsanwaltschaften und Polizei mit der Kirche nur sehr selten auf Tuchfühlung gehen. Zu Wort kommt auch eine Reihe Juristen, z.B. Thomas Schüller (@tschueller61):

In mehr als 40 Fällen prüft die Staatsanwaltschaft gerade das mögliche Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger in den vergangenen Jahrzehnten. Die Ermittlungen laufen seit Vorstellung des Aufsehen erregenden Münchner Missbrauchsgutachtens im Januar 2022. Dass es nun offenbar eine Durchsuchung gegeben hat, ist für Experten eine Zäsur. Der Kirchenrechtler Thomas Schüller etwa spricht von einer „Zeitenwende im Verhältnis von staatlicher Justiz und den Kirchen“. Aber warum gab es nicht schon viel früher Ermittlungen durch Strafrechtler und Staatsanwaltschaften, wo die Missbrauchs-Fälle doch bereits seit Langem bekannt sind? […]

Inzwischen sind die meisten Taten verjährt. Dass der Staat nicht früher intervenierte, erklärt der Kriminologe Pfeiffer ebenfalls mit einer ehrfurchtsvollen Grundhaltung der Kirche gegenüber.

„Das ist Gottes Wille“ – Was bedeutet geistlicher Missbrauch? – Clara Westhoff (BR24)

Mit dem Phänomen des geistlichen Missbrauchs befasst sich, ebenfalls beim BR, Clara Westhoff (@westhoff_clara): Ihr Artikel informiert über die Problemlage, gegenwärtige Forschungsvorhaben und auch eine Checkliste für kritische Anzeichen geistlichen Missbrauchs des Bistums Münster (PDF).

Begriffe, Symbole, Gewohnheiten sind tief in kirchliche Praxis eingewoben und wurden längst noch nicht überall kritisch überprüft. Besondere Schwierigkeit dabei: Wo genau geistlicher Missbrauch anfängt – die Grenzlinien zeichnen die Betroffenen selbst. Ute Leimgruber weiß, wann man hellhörig werden sollte: „Wenn zum Beispiel ein Seelsorger oder eine Seelsorgerin sagt, er oder sie weiß, was der Wille Gottes ist und deswegen solle sich eine bestimmte Person so oder so verhalten. Wenn Kritik unmöglich ist, das ist ein Hinweis.

In ihrem Pressekommuniqué zum Abschluss der Frühjahrs-Vollversammlung (PDF) informiert die DBK unter den Punkten 9 & 10 über den „Missbrauch geistlicher Autorität“, u.a. über eine Arbeitshilfe, die in Dresden verabschiedet wurde und in den kommenden Monaten erscheinen soll.

SCM-Verlag erklärt sich mit LGBTQI* solidarisch

Im Nachgang des Skandals um den queeren Universitätsgottesdienst in Berlin hat sich der evangelikale SCM-Verlag von einer evangelikal-charismatischen Influencerin distanziert, die im „Ketzer-Video“ (wir berichteten) auftrat. Die Stellungnahme des Verlagshauses auf Instagram kommt sehr überraschend äußerst LGBTQI*-freundlich daher.

Buntes

Rüdiger Schuch ab 2024 Diakonie-Präsident (Diakonie Deutschland)

Der Westfälische Pfarrer Rüdiger Schuch wird ab Januar 2024 neuer Präsident der Diakonie Deutschland. Zuletzt war er als Beauftragter der Evangelischen Kirchen bei Landtag und Landesregierung Nordrhein-Westfalens und Leiter des Evangelischen Büros NRW tätig, zuvor als Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Perthes-Stiftung e.V., Superintendent sowie Gemeinde- und Berufsschulpfarrer.

Schuch folgt Ulrich Lilie nach, der in den Ruhestand tritt. Lilie hat sich als Diakonie-Präsident immer wieder in sozial- und gesellschaftspolitische Debatten eingeschaltet (s. Eule-Interview vom November ’22), besonders in den Streit um den assistierten Suizid, in dem er sich gemeinsam mit den TheologieprofessorInnen Isolde Karle (s. Eule-Interview) und Reiner Anselm dafür aussprach, „den assistierten professionellen Suizid [zu] ermöglichen“.

Walter Homolka: Die Geschichte hinter den Vorwürfen – Karsten Krampitz (nd)

Im Neuen Deutschland schreibt Karsten Krampitz im Stil einer Netflix-True-Crime-Doku (zum Problem des Genres mehr hier in der Eule) über den Fall Walter Homolka. Das liest sich spannend und rückt einiges in den Zusammenhang.

Im Berliner Tagesspiegel (€) befragte in diesen Tagen Benjamin Lassiwe (@lassiwe) den Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, zur Zukunft der liberalen und konservativen Rabbiner-Ausbildung in Potsdam, die durch den Homolka-Skandal in Frage steht. Insbesondere die Eigentumsverhältnisse der Institute weckt – wie auch das „Drehbuch“ von Karsten Krampitz – die Frage: Wie konnte das alles nur so passieren?

Herr Schuster, der Zentralrat der Juden denkt über die Gründung einer Stiftung für das Abraham-Geiger-Kolleg nach. Warum?

Schuster: Die Rabbinerausbildung in Potsdam wurde durch einen Skandal von Machtmissbrauch und Diskriminierung erschüttert. Befördert wurde das, indem die Rabbinerausbildungsstätten als Kapitalgesellschaften strukturiert waren und diese einer Einzelperson gehörten. So konnte der Eigentümer, Herr Homolka, sämtliche Macht auf sich kumulieren. Wir halten es für notwendig, mit der Gründung einer religionsgemeinschaftlichen Stiftung die Trägerstruktur des Abraham-Geiger-Kollegs und des Zacharias-Frankel-Colleges auf neue und stabile Beine zu stellen. Die liberale und konservative Rabbinerausbildung muss verloren gegangene moralische und religiöse Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Theologie

Wissenschaftliches Gutachten: Ethik-Unterricht nimmt Religion oft nicht ernst genug (News4Teachers)

Im „Handbuch Religionskunde in Deutschland“ (kostenloser Download) analysieren Expert:innen die Situation der Alternativfächer zum konfessionellen Religionsunterricht und fordern eine deutliche Verbesserung der religionskundlichen Anteile des Ethikunterrichts in Schulen. Ich kann das aus eigener Anschauung nur bestätigen. Die Ergebnisse sollten jedenfalls dringend in Debatten über die Zukunft des Religionsunterrichts eingespeist werden:

„Einer religiös ungebundenen, säkularen Religionskunde sollte ein selbstverständlicher Platz in der Schule zugewiesen werden – für alle Schülerinnen und Schüler“, bringt es Wanda Alberts auf den Punkt. Allerdings kritisieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch die inhaltliche Gestaltung der religionskundlichen Anteile des Ethikunterrichtes, die oft stark verbesserungswürdig sei. […] In vielen Fachkonzepten werde Religion als etwas Fremdes oder sogar im Fall etwa des Islam oder Buddhismus als etwas Skurriles, Exotisches präsentiert. Hier mangele es oft an einem fundierten religionswissenschaftlich basierten Ansatz, der Religion als Teil von Lebenswelten in Gesellschaften ernst nehme – eine wichtige Bedingung auch für die Toleranzerziehung.

Religionskundliche Inhalte müssten bereits in der Lehramtsausbildung deutlich stärker verankert werden, als dies derzeit der Fall sei, um den Lehrkräften einen professionellen Umgang damit zu ermöglichen. Zudem seien weniger fachfremde Lehrkräfte in den Ethikfächern wünschenswert, aber in Zeiten umfassenden Lehrkräftemangels müsse dies oftmals eine Wunschvorstellung bleiben.

Im Deutschlandfunk bei Christian Röther (@c_roether) erklärt Religionswissenschaftlerin Wanda Alberts kompakt und konkret (13 Minuten), warum der Zustand der Religionskunde „erschreckend“ ist.

Nachwuchsmangel: Die katholische Theologie in Bedrängnis – Marius Retka (Die Eule)

Der wissenschaftliche Nachwuchs in der katholischen Theologie fehlt. Für junge Wissenschaftler:innen sind das eigentlich gute Nachrichten, wegen der Karrierechancen, aber das System der katholischen akademischen Theologie steht dadurch massiv in Frage. Im Rückgriff auf neueste Untersuchungen erklärt das der junge Theologe Marius Retka in einer ausführlichen Analyse hier bei uns in der Eule.

In den kommenden Jahren wird es von vornherein nicht für jedes Berufungsverfahren ausreichend qualifizierte Kandidat:innen geben, um die finalen Listen zu füllen. Es gibt keine Auswahl mehr. Der Markt ist leergefegt. Bereits 2016 wurde der Mangel an qualifizierten Bewerber*innen von den Autoren der damaligen Studie als dramatisch beschrieben. Nun hat er sich nochmals verschärft.

Ein guter Satz

– diesen und viele weitere sehr unterhaltsame Tweets hat die @pressepfarrerin auf ihrem Blog gesammelt