Unser neuer Bundestag: Besser als je zuvor?

Der neue Bundestag ist so vielfältig wie nie zuvor. Doch stellen sich mit Blick auf Ostdeutschland und die Diversifizierung der Gesellschaft auch Fragen nach der Zukunft unserer Demokratie. Ein Nach-Wahl-Kommentar.

Wir haben noch keine neue Regierung, das war klar. Gewählt wurde der neue Bundestag, auch wenn das mitlaufende implizite Plebiszit um den Kanzlerposten eindeutig zugunsten von Olaf Scholz entschieden wurde. Nun werden die Parteien sondieren. Das zu kommentieren, können andere besser und vor allem ausdauernder.

Welche Ergebnisse des gestrigen Wahltages aber kann man heute schon festhalten?

Der Bundestag wird bunter

Dank der Stimmenzuwächse von SPD und Grünen von zusammen ungefähr 10 % wird der nächste Deutsche Bundestag bunter als der letzte. Ja, unser Parlament wird so vielfältig wie nie zuvor! Mit Tessa Ganserer (@GansGrün) und Nyke Slawik (@nyke_slawik) ziehen die ersten trans Frauen überhaupt in den Bundestag ein. In den Reihen der Mitte-Links-Parteien finden sich außerdem viele junge Menschen. 23 % oder 48 Abgeordnete der neuen, vergrößerten SPD-Fraktion sind (noch) Jusos, also unter 35 Jahren alt. Auch der Anteil von PoC, Menschen mit Migrationshintergrund und schwarzen Abgeordneten steigt – wenngleich nach wie vor auf niedrigem Niveau.

Der Bundestag wird auch religiös vielfältiger werden. Abgeordnete mit muslimischem Background und auch solche ohne Religionszugehörigkeit werden im Parlament in größerer Zahl zu finden sein. Das ist nicht nur aus Gründen der Repräsentanz der Bevölkerung zu begrüßen, sondern könnte auch der Religionspolitik neuen Schwung geben.

Die herben Verluste bei der Union, gepaart mit den Zuwächsen von FDP und Mitte-Links-Parteien könnten zum Beispiel die Verhandlungen um die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen beschleunigen. Und obwohl bei schwierigen ethischen Themen wie Sterbehilfe und Schwangerschaftsabbruch bisher keine Fraktionsdisziplin galt, dürfte sich im neuen Bundestag die Debatte zumindest weniger eindeutig in Richtung möglichst restriktiver Regelungen gestalten. Die zunehmende Diversität unserer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft wird durch den neuen Bundestag besser repräsentiert als durch seinen Vorgänger.

Auch der Osten ist nicht nur „blau“

An die starken Wahlergebnisse der AfD im Osten sollte man sich nicht gewöhnen, aber sie gehören zur ost- und damit gesamtdeutschen Realität dazu. Doch hat die AfD bei dieser Bundestagswahl nicht dazugewinnen können, auch im ländlichen Raum im Osten nicht. Das zeugt davon, dass es im Osten ein festes rechtes und rechtsradikales WählerInnen-Reservoir von 15-25 % gibt. Das ist nicht schön, aber keine Neuigkeit.

Dass die AfD trotz der unter vielen Ostdeutschen umstrittenen Corona-Politik nicht zulegen konnte, liegt daran, dass die Folgen der Pandemie für das wirtschaftliche Leben im Osten von der schwarz-roten Regierungsbank aus abgedämpft wurden und das Potential für eine offen rechtsradikale Partei auch im Osten endlich ist. Wir haben gestern Abend den endgültigen Abschied von der LINKEN als Ost-Partei erlebt. Sie liegt zum Teil nur noch auf Platz 4. Die neue Ost-Partei, die überall zwischen Ostsee und Vogtland Erfolge feiert, ist die AfD. Man kann das also auch anders formulieren: Die AfD ist dabei, zur rechtsradikalen Regionalpartei zu verzwergen.

Olaf Scholz ist es zudem gelungen, eine in vielen ostdeutschen Landstrichen demoralisierte SPD wieder auf 20+ % zu führen – zumindest bei dieser Bundestagswahl. Wie nachhaltig dieser Trend sein wird, hängt von der Performance einer möglicherweise SPD-geführten Regierung im Bund ab. Und in Brandenburg und vor allem in Mecklenburg-Vorpommern mit Manuela Schwesig ist die SPD so stark wie zu alten Volkspartei-Zeiten.

Armin Laschet, Friedrich Merz und Hans-Georg Maaßen, der in seinem thüringer Wahlkreis spektakulär verloren hat, ist es bei dieser Bundestagswahl gelungen, die CDU auf 20+ % herunterzuwirtschaften. Ein Rechts-Kurs der Union scheitert in den Städten, selbst auf dem Land wählen Menschen dann doch das blaue Original. Vielen profiliert konservativen CDU-KandidatInnen ist es bei dieser Wahl nicht mehr gelungen, per Direktmandat in den Bundestag einzuziehen; im Osten wie im Westen.

Der Gewinner dieses Absturzes der Christdemokraten im Osten ist die AfD. Sie blieb mehr oder weniger stabil bei 20-30 % – und gewinnt damit Direktmandate. Die Lage für die Demokraten ist allerdings alles andere als aussichtslos, den politischen Einfluss der AfD in Zukunft zu verkleinern.

Beunruhigend für die Christdemokratie fällt auch der Blick auf die Präferenzen der Erstwähler:innen aus (FDP 23 %, Grüne 22 %, Union 10 %). Klar, eine christdemokratisch-konservative Partei war noch nie der Star der Jugend, aber: Nicht nur ist der Merkel-Bonus weg, sondern die FDP beansprucht unter den Jungen die Führung im Mitte-Rechts-Lager. Die konservativ und wirtschaftsliberal tickenden jungen Menschen suchen und finden eine Alternative jenseits der Union. Das mag auch am Bedeutungsverlust des Christentums liegen, dezidiert politisches Christentum findet man bei der Jugend ohnehin vor allem bei den Grünen.

Eine Wahlreform ist dringend nötig

Dass man mit 20 – 25 % Anteil der Wählerstimmen ein Direktmandat im Deutschen Bundestag erringen kann, ist allerdings nicht nur im Osten und nicht allein im Hinblick auf die AfD problematisch. Der Wähler:innen-Wille drückt sich auf diese Weise nur unzureichend aus. Das kann allen, denen am Fortbestand unserer repräsentativen Demokratie gelegen ist, nicht recht sein.

In Bayern und Baden-Württemberg unterliegen deshalb KandidatInnen der Grünen bzw. der SPD in Großstädten ihren CSU-KonkurrentInnen und im Osten gab es vielerorts veritable Dreikämpfe zwischen KandidatInnen von CDU, AfD und SPD bzw. LINKEN. In Deutschland können je nach Region vier Parteien Ergebnisse von 20+ % in Wahlkreisen erzielen. Es wird Zeit, dass unser Wahlrecht dem Rechnung trägt. Das Land ist eben vielfältiger geworden, als es die alte Bundesrepublik noch in den 1980er-Jahren war.

Ein besonderer Härtefall ist der Wahlkreis Dresden II – Bautzen II: Im alten Wahlkreis des betont christlichen CDU-Nationalen Arnold Vaatz gewann der Christdemokrat Lars Rohwer gerade so mit 39 Erststimmen vor AfD-Bewerber Andreas Harlaß – das entspricht 18,6 % der abgegebenen Stimmen. Aber auch die WahlkreiskandidatInnen von LINKE, SPD, Grünen und FDP erhielten über 10 % Stimmenanteile. Harlaß darf laut einem Gerichtsurteil übrigens „lupenreiner Neonazi“ genannt werden.

Eine Lösung könnte darin bestehen, dass um die Direktmandate eine Stichwahl zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidat:innen des ersten Wahlgangs stattfindet, wenn kein:e Kandidat:in in diesem eine absolute Mehrheit erkämpfen konnte. So ist es bei (Ober-)Bürgermeister-Wahlen üblich. Auf diese Weise würde tatsächlich jene:r Kandidat:in nach Berlin entsandt, die/der eine Mehrheit der Bevölkerung des Wahlkreises vertritt.

Wahrscheinlich würde so auch der immerwährenden Vergrößerung des Bundestages Einhalt geboten, die sich der Praxis von Überhangs- und Ausgleichmandaten verdient. Auf diese Weise geraten übrigens immer nur noch mehr Abgeordnete ins Parlament, die allein auf (wenig attraktiven) Listenplätzen ihrer Parteien kandidieren. Und: Die Stichwahlen könnten das demokratische Engagement vor Ort stärken, weil selbst dort wo traditionell immer ein Kandidat einer bestimmten Partei gewonnen hat, Bewegung ins Spiel kommt.

Natürlich wüssten wir dann am Abend einer Bundestagswahl noch nicht, wie dieser überhaupt zusammengesetzt ist. Mit dieser Unsicherheit kann eine reife Demokratie allerdings leben, erhielte sie im Tausch doch ein Parlament, in dem die Bevölkerung besser repräsentiert wäre denn je.


Coram Mundo (vor der Welt) und Coram Deo (vor Gott) verantworten Christen ihr politisches Engagement. In den sieben Teilen unserer Serie zur Bundestagswahl 2021 sind wir einigen Aspekten dieser Weltverantwortung nachgegangen:

Der Frage, in weit man sich in einer Welt „überpolitisch“ geben kann, in der Politik doch aus Interessenausgleich(en) besteht. Der Frage, welchen Heils-Anspruch Politiker:innen überhaupt formulieren und Wähler:innen von ihnen erwarten sollten. Der Frage, wie wir eigentlich zu unseren Politiker:innen kommen. Der Frage, was und wie Muslime in Deutschland wählen. Einzelne „Coram Mundo“-Ausgaben befassten sich mit der FDP, der SPD und den Grünen.

Ein bunter Reigen unterschiedlicher Perspektiven ist entstanden, der einige Impulse für die Zukunft enthält. So wird uns im Lichte der Klimakrise bestimmt die Frage nach dem richtigen Maß der Apokalyptik in der Politik weiter beschäftigen. Das Thema Generationengerechtigkeit gehört sowohl in der Klima- als auch in der Sozialpolitik auf die Tagesordnung. Das Wahlergebnis zeigt deutlich, wie sehr sich unser Land verändert: Darauf müssen nicht nur die politischen Parteien Antworten finden, sondern sich auch die Christen einen Reim machen.

Coram Mundo: Eule-Serie zur Bundestagswahl 2021

In einer siebenteiligen Serie von Analysen und Kommentaren widmen wir uns in diesem Jahr der Bundestagswahl am 26. September. Unsere Autor:innen beleuchten verschiedene Aspekte der politischen Landschaft vor dem Urnengang. Dabei schreiben sie aus unterschiedlichen politischen und thematischen Perspektiven. Diskutiert gerne mit, hier in den Kommentaren und auf unseren Social-Media-Kanälen!