Eskalierende Konservative – Die #LaTdH vom 9. Februar
Der Streit zwischen Kirchen und Union über die Migrationspolitik zieht weite Kreise. Markus Söder verrennt sich. Außerdem: Die KiHo in Wuppertal macht dicht und Zustimmung zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs.
Herzlich Willkommen!
„Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, […], lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören“,
heißt es im Epheserbrief (Kapitel 4, 25 ff.). Man möchte doch hoffen, dass dies auch im Wahlkampf gilt, denn Ehrlichkeit und maßvolle Rede sind ebenfalls demokratische Tugenden. Es wäre geradezu unsinnig, sie im Ernstfall der Demokratie, im Wahlkampf also, ad acta zu legen. Und trotzdem erleben wir in diesen letzten Tagen des Bundestagswahlkampfs genau dies:
Fakten werden bewusst einseitig und verfälschend interpretiert. Eigene Versäumnisse und Fehler werden beschwiegen, diejenigen der politischen Gegner und Feinde jedoch genüsslich ausgebreitet. Ehrenworte und Versprechen werden nicht nur gebrochen, es wird gleich ganz bestritten, es habe sie jemals gegeben. Recht und Gesetz werden verleumdet. Ein Notstand wird beschworen, der zum dringlichen Handeln zwingt. Durchaus existierende politische Probleme und gesellschaftliche Nöte werden rhetorisch so sehr überzeichnet, dass man zu glauben beginnt, dieses Land läge in Trümmern.
Der Wahlkampf ist Schauplatz der neuerlichen Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung, Kampffeld ist – wie so häufig – die Flüchtlings- und Migrationspolitik. Auf dem Rücken der Schwächsten, die kaum eine Stimme haben, lässt sich einfacher marodieren. Auf wessen Konto dieser Wahlkampf-Tremor am Ende einzahlen wird, ist dabei klar. Es ist gleichwohl nicht allein die AfD als parteipolitischer Arm des Rechtsextremismus, die profitiert. Es sind all diejenigen, die das Ressentiment gegen Migrant:innen politisch bewirtschaften und sich reiche Ernte davon versprechen.
Die Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studie 2024 (s. Grafik, PDF) zeigen, dass „Ausländerfeindlichkeit“ in der Gesellschaft weitverbreitet ist – und sich keineswegs auf einzelne politische Parteien beschränkt. Bezieht man obendrein noch die Ergebnisse der Studie zu den Themen Nationalchauvinismus und Autoritarismus („starker Führer“) ein, wird deutlich, welchen Resonanzraum Forderungen haben, die in der Migrationspolitik ein „entschiedenes und schnelles Handeln“ verlangen. Allzu mal, wenn sie von vermeintlich „starken Männern“ mit großem emotionalen Druck vorgetragen werden. „Das Maß ist endgültig voll“, rechtfertigt sich der CDU/CSU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz.
In Deutschland führt die Mobilisierung des Ressentiments nicht zum Absturz im politischen Ansehen. Das kann nur annehmen, wer bisher mit einem zu freundlich verzerrten Bild des Landes spazieren gegangen ist. Diejenigen, die (neuerdings) in den großen Medien des Landes ganz besonders scharf rechtspopulistisch kommentieren, sind keine Widerstandskämpfer, als die sie sich stilisieren, sie geben einfach nur dem Ressentiment Ausdruck, das sie wie viele andere Menschen teilen. Meinem Eindruck nach hat sich da bei manch einem auch ein Knoten gelöst. Endlich darf man sich Erleichterung verschaffen!
Die Erlaubnis zum Ressentiment ist auch deshalb so umfassend, weil es nicht bloß ein paar Ausrutscher der Parteiführenden sind, die als Signale im Wahlkampf gesendet werden, sondern sich zahlreiche Kandidat:innen und Publizist:innen landauf und landab am Schleifen der demokratischen Tugenden beteiligen. Kein Wunder, dass viele Menschen dem „faulen Geschwätz“ nicht länger zuhören wollen und sich angewidert abwenden.
Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein
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Debatte
Das bestimmende (kirchen-)politische Thema der Woche war erneut das Mit- und Gegeneinander von CDU/CSU und Kirchen. Ich verhehle nicht eine gewissen Ermüdung ob des gegenseitigen Beharkens unterschiedlicher Akteur:innen aus Politik und Kirchen in dieser Sache, die wir bereits in den #LaTdH vom vergangenen Sonntag ziemlich umfassend betrachtet haben.
Entfremdung unter Christen – Reinhard Bingener (FAZ)
In der Frankfurter Allgemeinen kommentierte Reinhard Bingener, der für die Evangelische Kirche zuständige Redakteur des Hauses, bereits Anfang der Woche die „Entfremdung“ zwischen Union und Kirchen, die bereits im Zentrum der „Debatte“ der #LaTdH von letzter Woche stand. Dabei ist Entfremdung keineswegs ein wertfreier Begriff, denn ein gewisses Bedauern schwingt immer mit, jedoch ist mit ihm noch nicht klar beschrieben, wer sich von wem in welche Richtung und mit welchem Furor entfernt.
Reinhard Bingener jedenfalls sieht, in diesen Tagen in der FAZ keine Selbstverständlichkeit, nicht allein die Kirchen auf Wanderschaft. Zwar hätten sie, u.a. durch eine „subtile Form der Politikverachtung“, „kräftig zu der Entfremdung beigetragen“, aber Bingener sieht auch, wie sich die Christdemokratie, nicht erst mit den Reaktionen auf die kirchliche Kritik am Entwurf des sog. „Zustrombegrenzungsgesetzes“ und die Akzeptanz einer parlamentarischen Mehrheit unter Zuhilfenahme der AfD, von den Kirchen absetzt:
Nach der Wahlniederlage von 2021 wurde in einer internen Analyse über einen Abschied vom „C“ im Parteinamen nachgedacht. In das neue Grundsatzprogramm musste 2024 ein klarer Gottesbezug erst nachträglich hineinverhandelt werden. In solchen Auseinandersetzungen geht es um die politische Tiefengrammatik der Unionsparteien. […]
Die Grundlagen dieses Konstrukts erodieren allerdings. Die prägende Wirkung der christlichen Religion auf die Gesellschaft wie auf das persönliche Verhalten schwindet. Anders als früher stammt auch kaum noch ein Nachwuchspolitiker der Unionsparteien aus der kirchlichen Jugendarbeit. Stattdessen sickern vom rechten Rand die Methoden der Populisten in Teile der Partei ein. Die innere Säkularisierung geht besonders im Osten mit einer neuen Rohheit und einer Entbürgerlichung der Formen Hand in Hand.
Die „neue Rohheit“, die so neu nicht nur im Osten und gerade auf dem Feld der Migrationspolitik keineswegs ist, tritt in diesem Bundestagswahlkampf offen zu Tage. Wenn der Erste Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei (CDU, römisch-katholisch), im Deutschen Bundestag behauptet, die Regelung des Familiennachzugs für Menschen mit subsidiärem Schutzstatus sei die Frage, die „an die Grundlage der Probleme unseres Landes“ rührt, hallt darin der Satz von Horst Seehofer (CSU) von 2018 nach, Migration sei „die Mutter aller Probleme“.
Tatsächlich verteidigen sich CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete derzeit öffentlich und in Antworten auf entsetzte Nachfragen von Bürger:innen mit dem Hinweis, die CDU/CSU sei ja die personifizierte „Brandmauer“. Man fühlt sich von SPD und Grünen im Kampf gegen die AfD aus wahltaktischen Gründen im Stich gelassen. In alldem dokumentiert sich eine erstaunlich eingetrübte Realitätswahrnehmung. Man wird sich noch lange nach dem Wahltag über die mittel- und langfristigen Folgen des parlamentarischen Wortbruchs von Friedrich Merz und CDU/CSU streiten, vor dem die beiden „KirchenbotschafterInnen“ in ihrem Brief warnten (s. hier in der Eule). Manchmal ist es aber gar nicht so kompliziert zu beschreiben, warum so laut gezetert wird: Getroffene Hunde bellen.
Eine unmittelbare Folge des Wortbruchs ist jedoch, dass sich all die christdemokratischen und -sozialen Lokal- und Landespolitiker:innen ins Recht gesetzt fühlen dürfen, die ohnehin schon mit der AfD gemeinsame Sache in Gemeinde- und Stadträten, Kreis- und Landtagen machen. Um auf Bingeners Kommentar zurückzukommen: Man schaue genau hin, was insbesondere in der Landespolitik in Sachsen und Sachsen-Anhalt läuft. Und als nächstes auf die kommunale Politik auch im Westen der Republik.
AKK, ZdK ojemine
Die spezifisch katholische Diskussion um die Stellungnahme war nach dem vergangenen Wochenende schon am Abklingen, als am Montag bekannt wurde, dass die ehemalige CDU-Vorsitzende und saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (kurz: AKK) aus dem Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) ausgetreten ist. Ausschlaggebend dafür waren auch die ZdK-Stellungnahmen der letzten Tage („Die Union überschreitet Grenzen der politischen Kultur“).
Lai:innen-Katholizismus und Politik sind vielfach personell miteinander verbunden: Eine Kooperation, die von allen Akteur:innen bewusst eingegangen wurde. ZdK und katholische Verbände erhoffen sich von den Politiker:innen Expertise und Sichtbarkeit, andersherum gereichen die Ehrenämter den Politiker:innen selbst natürlich zum Vorteil, weisen sie doch ihre Verbundenheit mit traditionell christdemokratischen Wählermilieus nach. Über viele Jahrzehnte hinweg war das ZdK außerordentlich CDU/CSU-geprägt. Das ist nun schon länger nicht mehr so. Die „neuen“ Umstände zwingen zu Pluralismusfähigkeit.
Dass mit AKK ausgerechnet die Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes und Vorsitzende der Gesellschafterversammlung der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) keine Grundlage mehr für die Mitarbeit im ZdK sieht, darf darum erstaunen. Ich finde es, knapp gesagt, schon schwach. Jede:r kann sich ehrenamtlich engagieren, wo er*sie will, aber Werbung für das Engagement in der Demokratie ist so ein beleidigter Rückzug nicht.
Einen anderen Weg der Auseinandersetzung hat die Präsidentin des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), Anja Karliczek (CDU), gewählt. Sie hatte im Bundestag mit ihrer Fraktion für die Entschließungsanträge und auch das sog. „Zustrombegrenzungsgesetz“ gestimmt. Deswegen wurde sie verbandsintern und öffentlich kritisiert (s. #LaTdH von vergangener Woche). In einer Stellungnahme verteidigt sie sich nun. Karliczeks Argumentation kann ich inhaltlich wenig abgewinnen, aber sie stellt sich immerhin der Diskussion im Verband.
„Einige nehmen einen Widerspruch zwischen meiner Abstimmung und unserer KDFB-Position wahr. Es ist nicht immer einfach, meinen beiden großen Verantwortungen – als Bundestagsabgeordnete und als KDFB-Präsidentin – gleichermaßen gerecht zu werden. Aus meiner Sicht ist mein Abstimmungsverhalten mit der KDFB-Beschlusslage vereinbar und ich stehe, wie bereits eingangs geschrieben, uneingeschränkt hinter den Beschlüssen unseres Verbandes. […] Der KDFB bleibt ein pluraler Frauenverband, in dem sich Frauen unterschiedlicher (partei-)politischer Überzeugungen gemeinsam für eine gerechte, solidarische und demokratische Gesellschaft einsetzen.“
Galoppierende Entfremdung – Roger Mielke (zeitzeichen)
Den ZdK-Austritt von AKK nahm im evangelischen Magazin zeitzeichen Roger Mielke, Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr, zum Anlass, seine Sicht auf die – bei ihm: „galoppierende“ – Entfremdung von Kirche und Union auszubreiten. Für Restzweifel daran, dass nicht allein die Kirche für sie verantwortlich ist, bleibt bei Mielke kein Platz. Den Gedanken, seine Kirche könnte in Inhalt und Form tatsächlich einmal richtig liegen, wagt der ehemalige Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD nicht.
Die Kirchen werden gut daran tun, ihre wenigen verbliebenen Konservativen nicht zu verjagen, sondern in diesem Resonanzraum zu halten. Die Leistungen eines nachdenklichen Konservatismus bleiben essentiell für die Funktionsfähigkeit des Politischen und für den Auftrag der Kirchen […]
Dass Mielke die rhetorischen Entgleisungen von Friedrich Merz (hier & hier in der Eule beschrieben), Markus Söder (hier), Alexander Dobrindt & Co. noch mit seinem Bild eines „nachdenklichen Konservatismus“ überein bringt, darf man getrost als kreative Spitzenleistung der Woche beklatschen. Allerdings, wer ausgerechnet Peter Hahne im Jahr 2025 noch einen „Pietisten“ nennt, von dem wird man eine zutreffende Analyse des Rechtspopulismus in der Union kaum erwarten dürfen. Natürlich muss ein „nachdenklicher Konservatismus“ einen Platz in der Kirche haben. Aber die Frage der Woche ist doch: Hat er einen Platz in der Union?
Mielkes Debattenbeitrag steht in einer Reihe mit den Interventionen von Ulrich H. J. Körtner (ebenfalls zeitzeichen) und vor allem Daniel Deckers (hier & hier in der FAZ), die den Kirchen einen links-grünen Drall zum Vorwurf machen und darüber die Radikalisierung der Union insbesondere auf dem Feld der Migrationspolitik vollständig aus dem Blick verlieren („Sprachrohr von Grünen und SPD“). Deckers verstieg sich vergangene Woche gar zu dem Urteil, die Anwaltschaft der Kirchen für Geflüchtete habe zur Stabilisierung des „dysfunktionalen und im Ergebnis inhumanen Migrationsregime[s]“ beigetragen, das sie ja gerade kritisieren (und zum Teil aktivistisch zu lindern versuchen). Die Kirchen seien, meint Daniel Deckers, „Steigbügelhalter der AfD“. Das ist der Sound des Rechtspopulismus.
Söder und die „kulturalistischen Religionsdeutungen“
Ihren traurigen Höhepunkt fand die populistische Ausschlachtung des Dissens‘ zwischen Kirchen und Union in den beiden Reden des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU, evangelisch-lutherisch) auf den Parteitagen von CDU und CSU. Die Union und insbesondere seine christsoziale Regionalpartei stünden ja so kräftig zu den Kirchen als Institutionen, da dürfe man sich doch ruhig etwas mehr „Zurückhaltung“ erwarten, immerhin zahle man ja im Freistaat „die Gehälter der Kirchen“.
„Nicht vergessen, wer am Ende noch an der Seite der Institution Kirche steht. Das sind nämlich wir. Nicht, dass man irgendwann ganz plötzlich allein steht. Denkt mal darüber nach.“
Das muss dieser „nachdenkliche Konservatismus“ sein, oder? Wie wir im „Wahlcheck Religionspolitik“ im „Eule-Podcast“ herausgearbeitet haben, steht die Union tatsächlich bei der Stange, wenn es um die traditionellen Mitwirkungs- und Eigenrechte der Kirchen geht. Sie will den Kirchensteuereinzug durch den Staat beibehalten, die Staatsleistungen weiter blechen, steht beim Lebensschutz an der Seite der römisch-katholischen Kirche und überhaupt: Hat nicht Markus Söder einst Kreuze in bayerischen Amtsstuben aufhängen lassen?
Sollte es noch eines Beweises bedurft haben, dass die weiterhin unterbleibende Ablösung der Staatsleistungen (ausgerechnet auch in ihrer bayerischen Form) und manche von der Zeit überholten Regelungen der Konkordate und Staatskirchenverträge den Kirchen zum Nachteil gereichen, hier ist er. Söder interpretiert die Kooperation mit den Kirchen als Geiselhaft. Auf den Protest der bayerischen Bischöfe dürfen wir gespannt sein. Insbesondere auf jenen der Bischöfe Stefan Oster (Passau), Rudolf Voderholzer (Regensburg) und Gregor Maria Hanke (Eichstätt), die sich mit Verweis auf das Abstandsgebot von Kirche und Politik in der vergangenen Woche noch gegen die Stellungnahmne des Katholischen Büros während des Wahlkampfs ausgesprochen hatten.
Es mag dem Herzens- und Bauchmenschen und ehemaligen Landessynodalen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) Markus Söder entfallen sein, aber bereits 2018 wehrten sich Kirchenvertreter:innen und Theolog:innen gegen seine Symbolpolitik mit dem Kreuz, der damals schon der identitäre Moder anhaftete. Über all die Entgleisungen und Anwürfe der letzten Jahre hinweg hielt man doch aber immer zusammen! Noch auf dem Kirchentag 2023 in seiner fränkischen Heimat wurde Söder warmherzig empfangen, die Christ:innen sind sehr vergebungsbereit. Auf seine zahlreichen Reisen zu Papst Franziskus nach Rom will der bayerische Krösus sicher auch nicht verzichten.
In alldem mag man erkennen, was Reinhard Bingener in der FAZ „kulturalistische Religionsdeutungen“ nennt, „die den Akzent wieder stärker auf traditionelle Werte und Identitäten legen“. Statt nur auf die Ethik abzuheben, so Bingener, sollten sich die Kirchen hierfür nicht taub stellen:
Die Kirchenleitungen verhalten sich äußerst spröde zu diesen Tendenzen, weil sie langfristig von einer multireligiösen Gesellschaft ausgehen. Ein wenig mehr Musikalität auf dem kulturalistischen Ohr wäre womöglich hilfreich und böte auch für die Kirchen selbst Chancen. Sie könnten es als ihre Aufgabe begreifen, ethischen Anspruch und Identitätsbedürfnis miteinander zu vermitteln. Vielleicht würde sich dann auch das Verhältnis zu den C-Parteien wieder entspannen, bevor es zu spät ist.
Wenn es aber statt um das „Christentum als ethisches Projekt“ um die „sogenannten Ordnungen“ gehen soll, wie Bingener anregt, was würde das für die realexistierende Union, für die bayerische CSU, für Markus Söder und Friedrich Merz bedeuten?
Müssten dann die Kirchen nicht statt eines freundlichen Verweises auf das von Friedrich Merz im Deutschen Bundestag gegebene Versprechen, keine Mehrheiten mit der AfD zu suchen, in einem Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit Verweis auf das 8. Gebot zur öffentlichen Reue und Buße rufen? Müssten sie nicht die Völlerei und Wollust der Geschäftemacher und Ehebrecher ausschimpfen? Was ist eine „christliche Kultur“ ohne die Sorge um die Schwächsten wert? Was nützt die Bibel im Dienstwagen (Söder), wenn die Bergpredigt mit Füßen getreten wird?
nachgefasst
Der Abbruch als Rechtsbruch? (SI-EKD)
Veronika Eufinger vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (SI-EKD) hat empirisch untersucht, wie die Bevölkerung ausdifferenziert nach Konfessionszugehörigkeit und Regionen über die Reform der Abtreibungsgesetzgebung denkt. In den #LaTdH hatten wir zuletzt am 22. Dezember 2024 über das Thema und die gerade erst frische Stellungnahme des Rates der EKD und einen Diskussionsbeitrag aus dem Kammernetzwerk der EKD berichtet.
Eufinger hat nun herausgefunden, dass nicht nur die offiziellen und offziösen evangelischen Stellungnahmen auf der Linie dessen sind, was sich evangelische Kirchenmitglieder wünschen, sondern dass „die vermeintliche gesellschaftliche Polarisierung bei dem Thema ein Mythos“ ist. Das SI-EKD stellt auf seiner Website ein „Interview“ mit Eufinger und in der aktuellen Ausgabe von „SI-Aktuell“ eine ausführliche Darstellung zur Verfügung (PDF).
Johannes Bebermeier beschreibt bei t-online derweil, ob und wie eine Reform des Schwangerschaftsabbruchs, wie von einer großen Mehrheit in Deutschland gewünscht und von einer größeren Gruppe von Abgeordneten des Deutschen Bundestages anvisiert, noch in dieser Legislatur beschlossen werden kann. Dazu beschreibt er einige alternative Wege zur Beschlussfassung, die von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf „unparlamentarische“ Weise herausgezögert worden sei, wie die Befürworter:innen des Antrags meinen.
Theologie
Hochschule soll Bildungscampus werden (epd, evangelisch.de)
Spätestens Ende März 2027 ist Schluss: Die Kirchliche Hochschule Wuppertal (KiHo) schließt. Auf dem „Heiligen Berg“ soll es dem Beschluss der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) zufolge mit einer „Weiterbildungsgesellschaft“ weitergehen. Dem kontroversen Beschluss der Synode (Beschlussvorlage als PDF) war ein „breit angelegter Partizipationsprozess“ vorausgegangen, schreibt die EKiR in ihrer Pressemitteilung. In der Eule hatten wir über das mögliche Ende der KiHo und die verschiedenen Zukunftspläne bereits im vergangenen Jahr in der Kolumne „Sektion F“ und in den #LaTdH berichtet.
Damals erinnerte Wolfgang Thielmann in den zeitzeichen an die zahlreichen Synodenbeschlüsse zu Umstrukturierungen auf dem „Heiligen Berg“. Im Lichte dieser Geschichte ist die neuerliche Rede von der Entwicklung eines „Bildungscampus“ ein besonders betrübliches Beispiel kirchlichen PR-Sprechs. Auf dem Gelände befinden sich ja längst weitere Einrichtungen der Landeskirche.
Nun also soll Schluss sein mit dem „klassischen“ Pfarramtsstudium, der „Master of Theological Studies“ als berufsbegleitendes Studium mit dem Ziel des Quereinstiegs ins Pfarramt soll erhalten bleiben. Hinzu sollen auf dem Wege der Kooperation mit der Bergischen Universität Wuppertal und weiteren, vor allem kirchlichen Partnern Zertifikatskurse und theologische Weiterbildungen für die Haupt- und Ehrenamtlichen in der Region kommen. Die neue gGmbH „Barmen Institut für evangelische Theologie“ soll gleichwohl nur noch vier Professuren (drei Planstellen W2 oder EG 15) haben.
Vor der Abstimmung der Landessynode wurde „aus dem Kollegium“ der KiHo gebeten, den grundständigen Theologiestudiengang zu erhalten, und der Senat der KiHo nahm die Beschlussvorlage „mit Befremden zur Kenntnis“, weil in ihr entgegen dem ursprünglichen Auftrag der Synode „nicht dargestellt“ sei, wie die KiHo „grundlegend reformiert“ weiterbestehen könne. Studierende und Mitarbeiter:innen der KiHo hatten noch auf der Tagung der Landessynode für den Erhalt ihrer Hochschule demonstriert.
Ein Menetekel für die Theologie?
Die Studierendenzahlen in den theologischen Studiengängen, die u.a. zum Eintritt in den kirchlichen Vorbereitungsdienst (Vikariat) qualifizieren, sind deutschlandweit stark rückläufig. An einer Reform des grundständigen Theologiestudiums wird erneut gearbeitet (s. „Sektion F“ von Carlotta Israel vom Mai 2024). In seinem zeitzeichen-Artikel von 2024 weist Wolfgang Thielmann auf die zunächst einmal regionale Problematik hin, dass „angehende Pfarrpersonen in Bonn, Bochum und Münster studieren [können], Religionslehrer zudem in Köln, Dortmund, Bielefeld und Siegen“ ausgebildet werden.
Dass das theologische Studienangebot aber deutschlandweit angesichts des sinkenden Interesses an Theologiestudium und Pfarramt überdimensioniert und zugleich zu wenig digitalisiert und auf kirchliche Bedarfe profiliert ist, ist kein neuer Befund. Markiert die Schließung der KiHo den Start einer heftigen Schließungswelle unter den theologischen Fakultäten, Hochschulen und Instituten?
Ein guter Satz
Weniger als die Hoffnung auf ihn
das ist der Mensch
einarmig
immerNur der gekreuzigte
beide Arme
weit offen
der Hier-Bin-Ich
– „Ecce homo“ von Hilde Domin, erklärt hier in der Eule von Christoph Gellner
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