Fünfhundertfünfundzwanzigtausendsechshundert Minuten
Ein Jahr nach dem 500. Reformationsjubiläum ist außer Ankündigungen kommenden Wandels in der Evangelischen Kirche wenig passiert. Dabei gibt es eine Menge anzupacken:
Der EKD-Ratsvorsitzende hält noch einmal Rückblick auf das große Jubiläum von 2017: Es sei richtig und gut, dass die Evangelen so groß gefeiert hätten, weil es „wichtige Diskussionen und Debatten in Gang gebracht habe“, so Landesbischof Bedford-Strohm. Als ein zentrales Ergebnis gilt ihm die Einführung des Reformationstages als gesetzlicher Feiertag in weiteren Bundesländern.
Und sonst so? Was hat sich nach dem 500. Reformationsjubiläum in immerhin fünfhundertfünfundzwanzigtausendsechshundert Minuten getan? Es ist schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass unter den Evangelen nach dem großen Fest noch größere Ratlosigkeit herrscht. Ratlos sind viele engagierte Christ_innen zunächst, wie sich der fleißig behauptete Bedeutungsaufschwung durch das Jubiläum in die Arbeit vor Ort übersetzen lässt.
Hinzu kommt durchaus eine wohlausgeruhte Bequemlichkeit jener, die sich auf den proklamierten Erfolgen der letzten Festsaison auszuruhen gedenken. Dabei ist trotz vieler inhaltlicher Anknüpfungspunkte und Beteuerungen, nach dem Jubiläum würde endlich losgelegt, wenig geschehen.
Wer in den vergangenen Monaten die Konflikte in der röm.-kath. Kirche verfolgt, der könnte sich trotz allen ökumenischen Mitgefühls ob der geräuschlosen Arbeit der evangelischen Kirchen eigentlich beruhigt zurücklehnen. Und tatsächlich hört man selbst von kirchenleitenden Personal, dass im Moment doch alles super läuft.
Diese Mischung aus Ratlosigkeit, Bequemlichkeit und Überheblichkeit ist für die Evangelische Kirche gefährlich. Sie setzt ihre Zukunft aufs Spiel und verpasst erneut den Zeitpunkt, ihr Schicksal durch entschiedenes Handeln beherzt selbst zu gestalten. Das betrifft im Besonderen vier große Fragen, die einer Antwort bedürfen.
Wie hält es die Evangelische Kirche mit dem Missbrauch?
Auf dem Scheitelpunkt der aktuellen Missbrauchsdebatte in den röm.-kath. Bistümern in Deutschland, nachdem die Deutsche Bischofskonferenz ihre Studie zum tausendfachen sexuellen Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen vorgestellt hatte, erinnerten Opfervertreter zu Recht auch daran, dass eine gründliche Aufarbeitung des Missbrauchs evangelischerseits noch aussteht.
Auch in evangelischen Gemeinden und Einrichtungen der Diakonie war in den letzten Jahrzehnten das Feld reich gesät, auf dem der Missbrauch blühen konnte. Das vergisst nur, wer den katholischen Missbrauch monokausal durch den Zölibat erklärt. Doch auch ohne die irdische Heerschar der Priester mit „unreifer Sexualität“ bildete sich in engen evangelischen Milieus ein ähnlich verklemmter Umgang mit der Sexualität aus. Bis auf wenige Ausnahmen (Korntal) ist in diesem Bereich noch wenig geschehen.
Dabei ist es die Evangelische Kirche nicht nur den Opfern schuldig, sich endlich umfassend der eigenen Missbrauchsgeschichte zu stellen. Daran hängt auch die zukünftige Glaubwürdigkeit evangelischer Gemeinden und Werke. Wie sollte die Diakonie sich glaubhaft um schutz- und pflegebedürftige Menschen kümmern ohne die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten?
Aus den röm.-kath. Bistümern strömen inzwischen täglich neue Nachrichten mit Missbrauchsbezug: Mal werden Altfälle endlich den staatlichen Ermittlungsbehörden übergeben, mal neue Richtlinien und Missbrauchsbeauftragte installiert. Einzelne Bischöfe benennen mutig Verantwortliche, öffnen Archive für unabhängige Untersuchungen und mahnen einen grundlegenden Kulturwandel an.
Ja, da ist auch viel Aktionismus dabei, der sich nur zum Teil aus ehrlichem Entsetzen ob des strukturellen Versagens der Kirche speist, aber wo ist dieses Entsetzen überhaupt evangelischerseits zu finden? Bei den Evangelen herrscht bis tief in die Amtsstrukturen hinein das Vorurteil vor, Missbrauch sei doch ein katholisches Thema.
Auf den Synoden der evangelischen Landeskirchen und auch auf der EKD-Synode im Herbst sollte an konkreten Selbstverpflichtungen gearbeitet werden, die Aufklärung und Reformen anstoßen. Besonders von den Diakonie-Leitungen und den Verbänden der evangelischen Freikirchen müssen aufmerksame Christ_innen nun einen neuen Willen zur Aufarbeitung fordern.
Wie gestalten die Evangelen Vielfalt?
Vor dem Hintergund einer röm.-kath. Jugendsynode fast ohne Jugendliche und den autoritären Führungsstrukturen bei den röm.-kath. Geschwistern fallen die Probleme der Evangelen, demokratische Teilhabe und Vielfalt in den kirchlichen Leitungsgremien zu gestalten, nicht weiter ins Gewicht, oder?
Tatsächlich beneiden reformwillige Katholiken ihre evangelischen Geschwister um das synodale Prinzip und die prinzipielle Gleichstellung von Frauen im ordinierten Kirchenamt. Beides gereicht den Evangelen allerdings kaum zur Beruhigung:
Einige Synoden der evangelischen Kirchen fallen nach wie vor durch ein bestürzendes Missverhältnis der Geschlechter auf. In allen Landeskirchen bilden Frauen die deutliche Mehrheit der ehrenamtlich Engagierten, in allen Landeskirchen nimmt dieses Engagement auf höheren kirchenleitenden Ebenen ab. Hinderlich ist hier einmal nicht die Theologie, sondern die konkrete Ausgestaltung von Arbeitsprozessen.
Da ließe sich eine Menge tun, um Frauen und junge Mütter (und Väter) stärker zu beteiligen. Mit der Studie „Kirche in Vielfalt führen“ hat die EKD selbst eine Analyse dazu vorgelegt, warum Frauen z.B. signifikant weniger in den mittleren und hohen kirchenleitenden Ämtern arbeiten. Welche handfesten Konsequenzen wurden daraus gezogen?
Das größte Missverhältnis in den Synoden und Räten der Evangelen wird schon bei der Betrachtung von Synode und Rat der EKD deutlich: Geleitet wird die Kirche von einer Schar von Großvätern und -Müttern. Auch das evangelische System ist für die Beteiligung von jungen Menschen kaum durchlässig. Darüber darf das umtriebige Leben der Evangelischen Jugend nicht hinwegtäuschen, auch katholischerseits versammeln sich über eine halbe Million junge Menschen in der Verbandsarbeit. Dort wie hier gilt es, dieses Engagement in die verfasste Kirche hineinzulassen.
Wie ernst es den Evangelen mit der Vielfalt tatsächlich ist, werden die nächsten Kirchenwahlen von den Kirchgemeinderäten vor Ort, über die Synoden und Räte der unterschiedlichen Ebenen bis „hoch“ zum Rat der EKD zeigen. Wem Vielfalt am Herzen liegt, der muss schon jetzt durch Reformen an Wahlverfahren und Quotierungen handeln. Sonst droht weiterer Stillstand oder sogar Entmutigung derjenigen Pionierinnen, die bisher vorangegangen sind.
Wie wird Kirche digital?
Es gibt Themen, da fällt den evangelischen Kirchen ihre Großmütterlichkeit besonders auf die Füße. Die Digitalisierung gehört definitiv dazu. Totalverweigerung bzw. Anbiederung bei den Techfrommen des Silicon Valley bilden hier nur die Extreme der kirchlichen Auseinandersetzung mit Digitalisierung und dem Leben in der Digitalität. Die einen fabulieren schon an der Kirche 4.0 herum, während in der Fläche bei Themen wie bargeldloser Kollekte und digitalen Liedzetteln die Augenbrauen hochgezogen werden.
In Berlin wird getagt und getagt, in der Peripherie herrscht vor allem die Angst, die benötigten Mittel würden von der traditionellen Kirchenarbeit abgezogen. Wenn dann gutmeinend, auch hier in der Eule, von spannenden Synergien und Zukunftstechnologien die Rede ist, erkennen manche darin nur den neuesten Aufguss der protestantischen Wirtschaftsrhetorik der 2000er-Jahre.
Die kommende EKD-Synode muss hier Klarheit schaffen und den Synoden der Gliedkirchen mutig voranschreiten: Die Digitalisierung wird Geld kosten, viel Geld. Die flächendeckende Finanzierung muss jetzt kommen. Die Kirchenkassen sind dank Kirchensteuereinnahmen in Rekordhöhe (noch) gut gefüllt und die Kirchenmitglieder haben ein Anrecht darauf, dass dieses Geld jetzt dafür ausgegeben wird, dass die Kirche ihnen wieder nahe kommt.
Gleichzeitig braucht es ein deutliches Bekenntis zur Kirche in der Peripherie und vor Ort. Beides schließt sich nicht von vornherein aus und sollte in der fortschreitenden Debatte nicht auseinanderdividiert werden. Jetzt ist es an den Kirchenleitungen dieses Zusammengehen nicht als schmerzlichen Kompromiss, sondern als fröhliche Reformation vorzuleben. Dazu braucht die Kirche Gesichter (s. Vielfalt), die beim Stichwort Digitalisierung nicht schon wieder von ihren Enkelkindern erzählen, sondern eine eigene digitale Glaubenspraxis vorleben.
Weil die Digitalisierung, so stellt sich immer mehr heraus, für die Diakonie am Ende eine noch viel größere Herausforderung bedeutet als für die sonstigen kirchlichen Strukturen, muss auch hier mutig voran gesprungen werden. Doch mit Künstlicher Intelligenz, Pflegerobotik, digitaler Pflegewirtschaft und einem pluralistischen Arbeitsmarkt wird flächendeckend gefremdelt – Exkursionen ins Sillicon Valley zum Trotz. Das kann sich die Diakonie nicht leisten, will sie noch in Jahrzehnten für Menschen da sein.
Den wolkigen Versuchen einer Theologie der Digitalität muss darum auch in der theologischen Ausbildung und Forschung Platz eingeräumt werden. Theologische Fakultäten mit ihrem multidisziplinären Ansatz bieten dafür geeignete Räume. Digitalität bedeutet auch, das Nebeneinander der theologischen Disziplinen in eine wirklich interdisziplinäre Zukunft zu überführen.
Allein mit der Einrichtung einiger Lehrstühle oder gar eines neuen EKD-Instituts zur Selbstbespiegelung ist es nicht getan! Hier müssen stattdessen mutig ökumenische und interreligiöse Pfade unter Mitwirkung von Sozialwissenschaften und Technologieentwicklung beschritten werden. Digitalität zu durchdenken braucht wohl die Universität, aber kaum die Kleinteiligkeit kirchlicher Arbeitsstellen.
Hat die Kirche eine Zukunft jenseits eingefahrener Routen?
Der digitale Wandel rüttelt an überkommenen Kirchenstrukturen. Eine Kirche, die digital und analog nahbar und bei den Menschen sein will, muss jetzt alles auf den Prüfstand stellen, was dafür nicht unbedingt von Nöten ist. Nicht, weil das Geld knapp wird, sondern weil wir in der Kirchenamtlichkeit den eigenen Auftrag verfehlen. Überkommene Strukturen müssen nicht in das digitale Paradigma des 21. Jahrhunderts hinüber gerettet werden.
Dazu gehört die Kleinstaaterei der evangelischen Kirchen in Deutschland, die nicht nur digital überflüssig, sondern hinderlich ist. Auch die Christ_innen vor Ort fragen sich ganz analog schon seit Jahrzehnten, wie viel der Finanzierung des Kirchenapparats „oberhalb“ der Gemeinden an sinnvollen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit der Kirche bei den Leuten noch geopfert werden soll.
Die staatssynchronen Strukturen der Evangelischen Kirche sind auch aus anderer Perspektive in Frage gestellt: Müssten die Evangelen ihren Bekenntnissen zu Demokratie, einer pluralen Gesellschaft und Europa nicht auch endlich Taten folgen lassen? Die evangelische Ökumene braucht das Engagement der deutschen Evangelen. Statt Frieden, Vielfalt und mehr Gerechtigkeit in Europa zu vielen Anlässen zu fordern, sollte sich die Kirche hier wirklich investieren.
Statt jedem einzelnen nationalistischen Furz noch ein bischöfliches Statement hinterher zuschicken, müsste mutig an europäischen Strukturen in Diakonie und Kirche gebaut werden. Wenn wir doch den Nationalismus überwunden haben, dann ist es auch Zeit Abschied zu nehmen von der evangelischen Kleinstaaterei, die sich immer noch am 18. Jahrhundert orientiert. Auch eine zentralistische Nationalkirche braucht in einem geeinten Europa kein Mensch. Gleiches gilt wohl auch für die Einführung weiterer kirchlicher Feiertage, die zwar den eigenen Geltungsdurst stillen, doch am Relevanzverlust nichts ändern.
Die Evangelische Kirche muss sich ernstlich fragen: Wie leben Menschen in Stadt und Land ihren Glauben? Und wie kann die Kirche bei ihnen sein? Wie kann sie sicherstellen, dass sie in die vielen Gesellschaften hineinhört, die heute Evangelische Kirche sind, und sich von ihnen inspirieren lässt zu verändertem kirchlichen Handeln? Wie kann sie Kirche im 21. Jahrhundert werden? Zeit wird’s.