Habe (De-)Mut! – Die #LaTdH vom 21. April
Die Kirchen reagieren (nicht) auf die Empfehlungen zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs. Außerdem: Kant, Taizé und „Gotteskind und Satansbraten“ feiern Geburtstag.
Herzlich Willkommen!
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, ist nach Immanuel Kant der Wahlspruch der Aufklärung. Zu seinem 300. Geburtstag am 22. April hat diese Aufforderung nicht an Aktualität eingebüßt. Mit „Was ist Aufklärung?“ antwortete Kant übrigens auf die Frage eines evangelischen Pfarrers – und mit einem Jahr „Verzug“. Damals mahlten die Mühlen der Publizistik noch ein wenig langsamer als heute. Das hat der Wirkung der Veröffentlichungen offenbar nicht geschadet.
In Kants knapper Erklärung habe ich in diesem Jahr einen Widerhaken entdeckt. Da ist von „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ die Rede:
„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen?“
Wenn wir in unserer Zeit über Unmündigkeit in den Religionsgemeinschaften und Kirchen sprechen, müssen wir es uns wohl komplizierter machen. Ist der religiöse Terrorist, der im Namen seiner Religion mordet und brandschatzt unmündig? Wenn ja, dann, weil ihm der Mut und die Entschlusskraft fehlen, sich gegen die Weisungen seiner Lehrer zu stellen? Woher käme denn solcher Mut und solche innere Unabhängigkeit?
Und im Kontext der Missbrauchskrise: Ist das jahrzehntelange Schweigen von Betroffenen nach Missbrauchsverbrechen, die ihnen im Raum der Kirchen angetan wurden, etwa ein Zeichen zu geringen Mutes? Nein, es ist von den Tätern einkalkulierte Konsequenz der Verletzungen, die ihnen häufig im Alter der gesetzlichen Unmündigkeit zugefügt wurden. Selbstverschuldet? Sicher nicht. Aber wie steht es um die Aufgeklärtheit der Zeug:innen, Glaubensgeschwister und der Gesellschaft im Allgemeinen? Ist unsere Urteilskraft nicht unversehrt genug, um verständig zu handeln? Kants Jubeltag liefert also sicher genug Anlass, über die Grenzen der Vernunft und der (Un-)Mündigkeit im Glauben und in den Kirchen nachzudenken.
Vor einer Woche, auf der Loccumer Tagung zu den Erkenntnissen der „ForuM-Studie“ (Bericht hier in der Eule), habe ich am Abend ein interessantes Gespräch über die Demut geführt, mit der die evangelische Kirche angesichts ihrer Missbrauchskrise auftreten sollte. Wie kommt man denn dazu? Ich meine: Demut kann man ebenso wenig befehlen wie Mut. Man kann sie aber wohl, dort wo sie geübt werden, wahrnehmen und loben und sich ein Beispiel nehmen.
Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein
Debatte
Kommission empfiehlt Entkriminalisierung früher Abtreibungen (tagesschau.de)
Die Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (Kom-rSF) hat ihren Abschlussbericht an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), den Bundesminister der Justiz, Marco Buschmann (FDP), und die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Lisa Paus (Grüne), übergeben (Abschlussbericht als PDF (626 Seiten), Zusammenfassung als PDF (41 Seiten)). Alle drei versprachen eine ausführliche Prüfung der Empfehlungen der Fachkommission, zu deren Arbeit – wir berichteten – auch die Kirchen Stellungnahmen beigesteuert haben. An eine (schnelle) Umsetzung der Empfehlungen aber ist zunächst nicht gedacht.
Die Kommission wurde als „interdisziplinär zusammengesetztes Gremium“ berufen und hatte sich vor einem Jahr konstituiert. Nicht dabei: Explizite Kirchenvertreter:innen. Das stellte ein Novum dar und wurde von den Kirchen durchaus irritiert zur Kennntis genommen. Stattdessen bestand die Kommission Expert:innen der Fachbereiche Medizin, Psychologie, Soziologie, Gesundheitswissenschaften, Ethik und Recht. In zwei Arbeitsgruppen sollten Möglichkeiten der Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches sowie Möglichkeiten zur Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft geprüft werden. Zu allen drei Themen haben „die“ Kirchen und Christ:innen reichlich zu sagen, nur nicht (mehr) einheitlich.
tagesschau.de berichtet über die Empfehlung zum Schwangerschaftsabbruch:
„In der Frühphase der Schwangerschaft (…) sollte der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung der Frau erlauben“, heißt es in der Zusammenfassung eines Berichts der interdisziplinär besetzten Kommission. Zudem sei sicherzustellen, dass Frauen den Abbruch zeitnah und barrierefrei in gut erreichbaren Einrichtungen vornehmen lassen können.
„Wer eine Schwangerschaft abbrechen möchte, hat mitunter große Probleme, sich zu informieren und eine Klinik zu finden“, erklärten in der Woche zuvor Tim Diekmann und Kim Ruoff vom SWR an gleicher Stelle:
In einer ersten umfassenden Erhebung haben Wissenschaftler von sechs Universitäten mehr als 5.000 Frauen zu ihren Erfahrungen bei gewollten und ungewollten Schwangerschaften befragt. Das Projekt „Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer“ (kurz: ELSA) wird vom Bund gefördert. Erste jetzt veröffentlichte Zahlen belegen ein regionales Versorgungs- und Informationsproblem.
Demnach berichten fast 60 Prozent der befragten Frauen von Schwierigkeiten, an Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zu kommen. Mehr als jede Vierte musste mehr als eine Einrichtung kontaktieren, um einen Termin für einen Schwangerschaftsabbruch zu bekommen. Besonders gering sei die Versorgung laut Forschern in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Hoch sei sie dagegen etwa in Stadtstaaten wie Berlin und Hamburg.
Katholische Reaktionen
Scharfe Kritik an den Empfehlungen der Kommission übte im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) deren Vorsitzender, Bischof Georg Bätzing (Limburg), in einer langen Erklärung, die von der DBK-Pressestelle veröffentlicht wurde. Bätzing verweist auf die bisherige Rechtssprechung, die sowohl das Lebensrecht des heranwachsenden Lebens als auch das der Schwangeren beachte, während der Kommissionsvorschlag „zu einseitig“ sei.
Der Dissens mit der Bischofskonferenz ist keineswegs überraschend. Sie hatte auch die Fragen der Kommission an ihre Adresse sehr kritisch und eindeutig im Sinne der katholischen Lehre beantwortet. Aber auch der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) und die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, kritisierten die Kommissionsempfehlungen in dieser Woche, berichtet die KNA.
Evangelische Reaktionen
Deutlich unübersichtlicher sieht die Lage in der evangelischen Kirche aus. Dort gibt es eine breite Sympathie für eine Neuregelung außerhalb des Strafgesetzbuches, zugleich aber wird am Lebensrecht des sich entwickelnden Lebens und an der Notwendigkeit bzw. Möglichkeit von Beratungen festgehalten. Wie schwierig die Debattenlage ist, kann man Friederike Spengler, Regionalbischöfin aus der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und EKD-Synodale, in diesem DLF-Interview anhören.
Am Sachstand der unterschiedlichen Positionierungen hat sich gleichwohl seit dem Herbst 2023, als wir das Thema mit Beiträgen von Carlotta Israel, A. Katarina Weilert und Niklas Schleicher hier in der Eule ausführlich diskutiert haben, nichts geändert. Auch kirchenpolitisch ist man seit der Befassung mit dem Thema auf der EKD-Synode (wir berichteten) nicht über den Stand vom Herbst 2023 hinausgekommen, als ich hier in der Eule ein Debatten-Panorama versucht habe. Gut evangelisch wurde ja eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Dann wird das ja was werden. Die EKD jedenfalls blieb anders als die Bischofskonferenz nach der Vorstellung der Kommissionsergebnisse stumm.
Praxis vor Theorie
An anderer Stelle in diesen #LaTdH (s.u.) wird es um den Unterschied von Praxis und Theorie gehen. In der Praxis, so viel ist wahr, ist die Strafbarkeit der Abtreibung heute für eine Vielzahl von Abbruchszenarien kaum mehr relevant. Sie hat aber gleichwohl atmosphärische Wirkungen. EKD und Diakonie hatten sich in ihren kontrovers diskutierten Stellungnahmen gegenüber der Kommission (s. #LaTdH vom 22. Oktober 2023) nicht nur differenziert zu (straf-)rechtlichen Fragen geäußert, sondern vor allem auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Schwangere und Familien abgehoben. Unsere sozialen Sicherungssysteme und das Gesundheitssystem sind derzeit in multiplen Krisen gefangen. Das fordert heute schon Tribut von denen, die als Patient:innen und Hilfesuchende in unserer Gesellschaft zu den Schutzsuchenden gehören.
Da in den kommenden Monaten – womöglich in der restlichen Legislatur dieses Bundestages – nicht mit einer Re-Formulierung des Schwangerschaftsabbruchs zu rechnen sein wird, stellt sich die Frage nach ebenso drängenden oder sogar dringlicheren Fragen in Sozial- und Gesundheitswesen. Womöglich handelt es sich dabei sogar um Fragen, die von den Kirchen und Christ:innen einhellig beantwortet werden können.
nachgefasst I: Missbrauchskrise
„Aufarbeitung vor Ort“ (IPP München)
Das IPP München hat gemeinsam mit Dissens aus Berlin eine weitere „Substudie“ zur „ForuM-Studie“ über sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen (an Minderjährigen) in der evangelischen Kirche und Diakonie vorgelegt. Die Studie (PDF) befasst sich mit der Aufarbeitung in einer Evangelischen Kirchengemeinde der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW). Ziel der Studie sei es gewesen, „förderliche und hinderlichen Faktoren für die Aufarbeitung vor Ort zu identifizieren und Empfehlungen für eine gelingende Aufarbeitung in Kirchengemeinden und weiteren Einrichtungen zu entwickeln“.
Missbrauch: NRW-Bistümer befragen Gläubige zur Prävention (KNA, Kirche + Leben)
Noch bis zum 3. Mai läuft eine Online-Befragung, in der sich Katholik:innen in NRW zur Prävention von Missbrauch im kirchlichen Kontext äußern sollen. Beteiligt sind die (Erz-)Bistümer Köln, Paderborn, Aachen, Essen und Münster. Die Ergebnisse sollen im kommenden Jahr veröffentlicht werden. Teilnehmen kann man hier und hier gibt es weiterführende Informationen.
Zwar sind auch die Präventionsbemühungen von Bistümern und Landeskirchen sowie weiteren christlichen Kirchen nicht harmonisiert, aber die Studie verspricht einen wichtigen Einblick darin, ob und wie die zahlreichen Präventionsprogramme der Kirchen bei den Menschen „in der Fläche“ ankommen – und damit auch Erkenntnisse darüber, wo der Schuh noch drückt.
„Der Weg zur Hölle“: Theaterstück über Missbrauch – Andrea Schwyzer (DLF)
In der Sendung „Tag für Tag“ des Deutschlandfunks erzählt Andrea Schwyzer vom Theaterstück „der weg zur hölle ist mit guten absichten gepflastert“ des Theaters für Niedersachsen (ausführliche Informationen), in dem die Stimmen von Betroffenen und Co-Betroffenen zur Missbrauchskrise der Kirche(n) zu Wort kommen.
In monatelanger Recherche wurden Unmengen an Material gesichtet und zahlreiche Interviews geführt – mit Betroffenen, Betroffeneninitiativen und Vertreter_innern der Kirche. Die Ergebnisse bilden die Grundlage der Texte und Szenen, die nun in einer Uraufführung mit dem tfn_schauspielensemble auf die Bühne gebracht werden. […] Ein erschreckender und berührender, im besten Sinne intensiver Theaterabend, der sich als Teil des öffentlichen Diskurses begreift, indem er mit theatralen Mitteln den Betroffenen Gehör verschafft.
Das Stück wird zunächst bis Juni in verschiedenen niedersächsischen Städten aufgeführt. Schon die kurzen Ausschnitte im Radio-Beitrag von Andrea Schwyzer vermitteln einen Eindruck von der Spannung, die entsteht, wenn Betroffenenschilderungen auf die geistliche Rede in den Kirchen treffen.
nachgefasst II: (Kirchen-)Politik
„Vergebt uns unsere Schuld!“: Warum ein Kulturwandel in der katholischen Kirche ohne die Aufarbeitung der Schuldgeschichte nicht gelingen wird – Rainer Teuber (feinschwarz.net)
Im Jahr 2022 forderte die Initiative #OutInChurch ein Ende der innerkirchlichen Diskriminierung von LGBTIQ+ Personen (wir berichteten). Fernsehdokus in der ARD sorgten für die dringend benötigte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Nach zwei Jahren zieht Rainer Teuber, Mitinitiator und Pressesprecher der Initiative, bei feinschwarz.net eine kritische Bilanz und fordert eine Aufarbeitung der Schuldgeschichte der Kirche.
AfD-Personal und Kirche
Die Frage, welche Konsequenzen eigentlich aus den klaren Voten von Kirchenleitungen und Bischöfen zur Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und AfD-Engagement gezogen werden (können), beschäftigt weiter die Publizistik. Ich frage mich: Wie ist das vor Ort in den Gemeinden? Bisher werden vor allem einige wenige Einzelfälle in den Berichten erwähnt, in denen einige Bistümer und Landeskirchen erste Maßnahmen ergreifen. Lassen Sie mich Ihre Eindrücke gerne wissen, z.B. per E-Mail!
Das Bistum Trier hat Christian Schaufert, den stellv. Fraktionsvorsitzenden der AfD im Landtag des Saarlandes, von der Mitarbeit in kirchlichen Gremien ausgeschlossen, berichtet die KNA. Und im tagesschau.de-Beitrag von Kristin Becker und Owusu Künzel vom SWR geht es um weitere AfD-Sympathisant:innen im Ehrenamt. In der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) gibt es den inzwischen auch bundesweit bekannten Fall des Pfarrers Martin Michaelis, gegen den inzwischen ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde. Dazu in den kommenden Tagen mehr in der Eule.
Buntes
Theologe: Zukunft der Kirche liegt im Lokalen – Interview von Christoph Paul Hartmann mit Thomas Schlag (katholisch.de)
Wie wird die Zukunft der Kirche und des Glaubens aussehen? Thomas Schlag, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, forscht seit vielen Jahren u.a. zur Digitalisierung in den Kirchen, zum kirchlichen Handeln in der Corona-Pandemie und zur Kirchenentwicklung. Im katholisch.de-Interview schlägt er einen weiten Bogen von den Herausforderungen der Gemeinden vor Ort über die Ergebnisse der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) bis hin zu den großen politischen Fragen der Kirchenzukunft:
Frage: Das heißt aber auch: Das Christentum hat eine Zukunft.
Schlag: Unbedingt. Dass der Glaube mit zunehmender Modernität abnimmt, hat sich nicht bewahrheitet. Theologisch ist mir nicht bange, dass wir eine Zukunft des Christentums haben werden, da dürfen wir uns nicht zu sehr von den europäischen Entwicklungen blenden lassen, die den Eindruck erwecken, das Christentum strebe sicher seinem Untergang zu.
Schwierig wird es mit der Verortung dieses Christentums: Wie wird es politisch agieren, wie geht es mit Minderheiten um? Gerade die Lage von religiösen Minderheiten weltweit hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich verschlechtert. Das hat sich zuletzt auch mit bestimmten Zuspitzungen der Mehrheitsgemeinschaften zu tun. Gleichzeitig versuchen politische Kräfte, diese religiösen Eindeutigkeiten für sich zu nutzen.
Aus für Sozialinstitut KSZ beschlossen: Alternative am Horizont – Felix Neumann (katholisch.de)
Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hat die Abwicklung der Katholischen Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach beschlossen. Felix Neumann geht für katholisch.de den Hintergründen der Entscheidung nach. In veränderter Form soll an der Theologischen Fakultät Paderborn an „zentralen Aufgaben“ des Instituts weitergearbeitet werden (Stellungnahme). Bemerkenswert auch die Begründung der DBK für die Schließung der Zentralstelle (Stellungnahme), die Neumann so zusammenfasst:
Der Hauptgrund liege in der veränderten gesellschaftlichen Situation, […]. Die theologische Auseinandersetzung mit katholischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen habe sich pluralisiert und finde heute an ganz unterschiedlichen Orten statt, was der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zuträglich sei. Neben einer stärkeren Etablierung der Sozialethik an katholischen Fakultäten würden auch an den katholischen Akademien sozial- und gesellschaftspolitische Fragestellungen intensiv reflektiert. Hinzu komme der Rückgang finanzieller Ressourcen.
75 Jahre Taizé: „Junge Leute finden hier Menschen, die ihnen zuhören“ – Interview von Stephan Cezanne mit Prior Matthew (epd, katholisch.de)
Seit 75 Jahren gibt es die ökumenische Bruderschaft von Taizé, auch heute reisen jede Woche 3.000 bis 4.000 (zumeist) junge Menschen nach Frankreich, um eine Woche oder länger das geistliche Leben mitzuerleben. Die Gesänge von Taizé prägen Andachten und Gottesdienste, der „Geist von Taizé“ ist in Kirchen ganz unterschiedlicher Konfession eingezogen. Im Interview zum Jubiläum gibt der neue Prior der Gemeinschaft, Frère Matthew, Auskunft über die gegenwärtigen Herausforderungen, inkl. der Bearbeitung des Problems der sexualisierten Gewalt, und spricht über die Potentiale der Ökumene:
„Die ökumenische Bewegung muss immer wieder erneuert werden. Für Frère Roger, für unseren Gründer, war die Einheit der Christen nie ein Ziel an sich. Aber Christen können wie ein Katalysator des Friedens in der menschlichen Familie wirken. Das erstreckt sich auch auf die anderen Religionen. Wir haben seit rund sieben Jahren eine Woche der christlich-muslimischen Freundschaft, zu der Leute aus dem Islam eingeladen werden. Wir in Taizé sehen zudem immer mehr, dass junge Menschen zu uns kommen, die keine Verbindung zur Kirche haben. Sie suchen einen Sinn in ihrem Leben und sind bereit, am Leben und Gebet einer christlichen Gemeinschaft teilzunehmen. Das ist eine Herausforderung.“
Simon Linder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Tübingen, lobt in seinem „Standpunkt“ bei katholisch.de diese Praxis der Ökumene, die der „Theorie“ vorausgeht. Können Gebet, Lieder und Gemeinschaft eine Antwort auf die Unsicherheiten unserer Tage sein? Frère Matthews Antwort auf die Frage nach den Ängsten junger Menschen:
„Es stimmt, dass viele junge Menschen voller Angst sind, weil sie sich um die Zukunft des Planeten sorgen, etwa wegen der Klimakrise. Jetzt kommt auch noch der Krieg in der Ukraine und anderen Orten hinzu. Die jungen Leute finden hier vor allem Menschen, die für sie da sind und ihnen zuhören.
Wir leben in einer sehr komplexen Welt. Die Versuchung ist groß, einfache Antworten zu geben. Aber wir haben in jeder Woche verschiedene Workshops, in denen wir einige dieser Themen auf den Tisch bringen. Es wird ein Raum geschaffen, in dem sie sich ausdrücken können. Das ist vielleicht das Wichtigste. Denn bei allen Ängsten und Sorgen ist es am schwierigsten, wenn wir das Gefühl haben, allein zu sein.“
4 Jahre nix mehr normal – Daniela Albert (Die Eule)
Seit vier Jahren begleitet uns in der Eule die Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ von Daniela Albert. Zum Geburtstag schaut Daniela auf die Folgen der Corona-Pandemie für Kinder, Jugendliche und Familien zurück. In den vergangenen Wochen wurde ja begonnen, über eine Aufarbeitung der Pandemie-Jahre zu diskutieren. Daniela warnt, dass dabei die Perspektiven und Interessen von Kindern und Jugendlichen (abermals) keine Priorität haben.
Ich finde, darauf sollten wir aber Wert legen, egal ob nun eine Enquete-Kommission des Bundestages kommt oder auf anderen Wegen versucht wird, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Jetzt ist die Zeit, die Perspektiven junger Menschen wirklich mitzudenken!
Für die Eule ist „Gotteskind und Satansbraten“ in den vergangenen vier Jahren immer wieder ein sehr wichtiger Anker in den Lebenswelten von Familien und Kindern gewesen – nicht nur, aber vor allem, wenn es um die Pandemie-Bekämpfung ging. Stöbern Sie gerne einmal in den inzwischen 45 Ausgaben der Kolumne. Manchmal waren es allein die Kolumnen von Daniela, die wichtige Themen und Anliegen überhaupt „ins Magazin“ und damit hoffentlich auch in unsere Gedanken gebracht haben, die im Alltagsgeschäft von Politik und Kirchen sonst untergehen.
Wir arbeiten ja alle arbeitsteilig, aber es kann sicher nicht gut sein, wenn man die Anliegen von jungen Menschen und ihren Eltern immerzu in einem Extra-Bereich jenseits des wichtigen Geschäfts verhandelt. „Familie und das andere Gedöns“ sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) dereinst, sind wir heute da wirklich weiter? Zu einigen Themen, z.B. zur Gewalt in Kitas und zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, hat Daniela auch im Eule-Podcast Auskunft gegeben und diskutiert. Hören Sie mal rein!
Theologie
„Beim Universum bestellen“: Manifestieren
Ganz gut passend zum Kant-Geburtstag beschäftigt sich die „Sternstunde Philosophie“ des Schweizer Radio und Fernsehens mit dem Trend des Manifestierens. Die Sendung gibt es in der SRF-Mediathek zum Anschauen und zum Thema auch eine Podcast-Episode bereits aus dem November 2023.
Manifestieren funktioniert wie eine „Bestellung beim Universum“. Man versucht durch die Kraft der Gedanken in die richtige Schwingung zu kommen und so das Gewünschte anzuziehen. Denn laut dem sogenannten «Gesetz der Anziehung» zieht sich Gleiches und Gleiches an. Plötzlich werden Traumpartner, Traumwohnung oder Traumgehalt zur Realität. TikTok-Videos mit Manifestations-Anleitungen gehen viral, insbesondere unter jungen Menschen. Woher kommt dieses neue Bedürfnis nach Kontrolle und Transzendenz? Wo liegen die Grenzen zur Kunst des positiven Denkens? Und wo hört der Spass auf?
Die Moderator:innen sprechen mit der Kulturwissenschaftlerin, Psychologin und ZeitOnline-Redakteurin Ann-Kristin Tlusty und mit der Schauspielerin Melanie Winiger, die regelmässig manifestiert und behauptet, so ihren Traummann gefunden zu haben. Außerdem dabei: Manuel Schmid, Theologe, Philosoph und Co-Leiter des reflab.ch, des „digitalen Lagerfeuers“ der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Schmid hat in einem eigenen Blog-Artikel beim RefLab das Thema weiter vertieft.
Es ist nicht die Faulheit und Unersättlichkeit junger Generationen, welche diesen Trend erklärt, sondern vielmehr das erwachende Bewusstsein, dass auch mit Fleiss und redlicher Arbeit nicht mehr alle Türen offenstehen.
Denn das spätmoderne Leben ist voller Ambivalenzen: Auf der einen Seite sehen wir uns einer enormen Optionsvielfalt gegenüber, verbunden mit dem Imperativ, angesichts derart vielfältiger Möglichkeiten auch etwas aus unserem Leben zu machen […]. Auf der anderen Seite finden sich gerade Angehörige jüngerer Generationen (Millennials/Gen Z…) in einer Welt wieder, deren Horizont sich zunehmend verdüstert. Wieder aufflammende Kriege in nächster Nähe, die drohende Klimakatastrophe, auch die Pandemie und ihre Folgen haben das Lebensgefühl geprägt. Irgendwie scheint eben doch nicht alles möglich zu sein – das Leben mit seinen Unberechenbarkeiten und Krisenszenarien setzt ein fettes Fragezeichen hinter die eigenen Pläne und Ambitionen.
Ein guter Satz
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
– Immanuel Kant