Kolumne Sektion F

Der Kummer mit dem Kümmern

Kirche und Care gehören zusammen – oder? Über die Care-Arbeit der Kirche in unserer Gesellschaft, in der das Sich-Kümmern viel zu oft out ist.

Care-Arbeit, das Versorgen anderer Menschen, ist überall anzutreffen. Sie findet im häuslichen und familiären Kontext statt und professionalisiert in Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen. Die professionalisierte Form der Care-Arbeit steht in Deutschland unter großem Druck. Die Versorgungslage in verschiedenen Care-Bezügen wie Kinderbetreuung und Pflege ist schlecht. Private Care-Arbeit führt Menschen nicht selten an den Rand der Verzweiflung und wird überhaupt nicht bezahlt, was vor allem Frauen benachteiligt. Vier Schlaglichter auf die komplexe und komplizierte Lage:

Die Kirchen sind als Institutionen sind strukturell in die professionalisierte Care-Arbeit involviert, weil Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen in konfessionellen Träger*innenschaften liegen. Das ist nicht allein Good Will. Kirchliche Pflegeheime und Krankenhäuser hängen am Ende an den Zahlungen der Beitragszahler*innen der Pflege- bzw. Krankenversicherung und an staatlichen Unterstützungen. Bei Kitas aber zum Beispiel tragen die Kirchen als Trägerinnen ca. 10 Prozent des finanziellen Aufwands selbst aus Kirchensteuermitteln (hier gibt’s EKD-Infos zu Kitas).

Dass es eigentlich gerade einen Betreuungsnotstand für Kinder gibt, weil der Fachkräftemangel auch vor Kitas nicht Halt macht und 400.000 Kita-Plätze fehlen, geht in der Vielfalt unserer gesellschaftlichen Debatten häufig unter (mehr zum Thema hier in der Eule). Kinder und ihre Bedürfnisse, Familien und Familienpolitik stehen – Daniela Albert hat es in der letzten „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne gerade wieder einmal beschrieben – häufig nicht im Fokus der (medialen) Aufmerksamkeit. Auch die Kirchen sind vom Betreuungsnotstand betroffen: Als Arbeitgeberinnen, weil auch in kirchlichen Kitas die Arbeitskräfte zunehmend fehlen, und weil kirchliche Mitarbeiter*innen in Haupt-, Neben- und Ehrenamt mangels Kinderbetreuung nicht in dem Umfang arbeiten können, wie sie es vielleicht wollen.

Profitiert die Kirche nicht sogar davon, dass sie sich um Arme, Schwache, Kranke und Alte und eben auch um Kinder kümmert? Die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) widmet sich kirchlichen Kindertagesstätten explizit im Kontext des Themenfelds „Reichweite“. Ein gutes Drittel der Menschen in Deutschland hat in der Kindheit eine konfessionelle Kita besucht. Konfessionelle Kitas sind ein wichtiger Anker im Leben von Kindern und „erreichen“ auch heute noch mittelbar viel mehr Menschen als zum Beispiel die Sonntagsgottesdienste. Trotzdem gelingt es nur bei 12 % der Eltern, eine positivere Einstellung gegenüber Kirche und Glaube weiterzugeben.

Kirche und Care gehören doch aber zusammen, oder? Wie stark Care als eigentlicher Kompetenzbereich von Kirche wahrgenommen wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass missbrauchte Care-Verhältnisse alles auf Spiel setzen, wofür die Kirche steht. Das zeigt nicht zuletzt die aktuelle Missbrauchskrise der Kirchen, in deren Zentrum auch die Care-Arbeit in Einrichtungen für Kinder steht.

Von Anfang an dabei

Vorstellungen davon, was und wie Kirche sein sollte, wurden seit ihrer Entstehung kontrovers diskutiert. Schon das Neue Testament zeigt mehrere Organisationsformen in ihren Anfangsstadien: Bischofsamt, Ältestenrat, aber auch die Witwenfürsorge (Apostelgeschichte 6, 1–7). Seit diesen Anfängen ist selbstverständlich viel passiert. Auch wenn die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland inzwischen nicht mehr ganz 50 % der Bevölkerung umfassen, sind sie doch wesentlich etablierter und mit größeren Privilegien ausgestattet als die kleinen ersten Christ*innengemeinden.  Aber eins ist klar: Die Care-Arbeit ist als kirchliche Aufgabe seit Anfang an mit dabei.

Das wurde im Verlauf der Christ*innentumsgeschichte immer wieder auch neu entdeckt: Die ursprünglich in Lateinamerika entstandene Befreiungstheologie zum Beispiel betont, dass sich G*tt insbesondere den Armen zugewendet hat und dass daraus auch für das kirchliche Handeln Konsequenzen folgen müssen. Sagt das Evangelium nun, dass für die „armen“ Eltern in Deutschland mehr Betreuungsplätze her müssen? Das würde der globalen kapitalistischen Ausbeutung einzelner Länder und großer Teile der Weltbevölkerung sicher nicht gerecht werden. Deshalb müssen wir diesen Gedanken noch einmal etwas auseinanderziehen: Was heißt es eigentlich, dass sich die Kirche kümmert?

Das Kümmern als „Kommunikation des Evangeliums“

Mit dem Praktischen Theologen Christian Grethlein verläuft die „Kommunikation des Evangeliums“ durch drei aus dem Neuen Testament und jesuanischem Handeln abgeleitete Kommunikationsmodi: 1. Lehren und Lernen, 2. Essen und Trinken als Gemeinschaftsstiftung, 3. Heilungen bzw. Lebenshilfe.

Die erste Kümmerfunktion der Kirche ist weniger gegenständlich, steht aber ganz im Zentrum des kirchlichen Lebens: Es ist das Erzählen von G*tt und Jesus Christus, durch das Menschen etwas Gutes für ihr Leben mitgegeben werden soll. Selbst Kirchenkritiker*innen sprechen ja von der „Kirche als Moralagentur“. Ein belehrendes Auftreten wird den Kirchen wohl am ehesten attestiert. Für viele Menschen ist das Lehren der Kirche aber eine wichtige Stütze in ihrem Leben, bei der individuellen Lebensgestaltung und in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement. Als politische Akteurinnen setzen sich die Kirchen vom Evangelium her eben nicht nur durch Taten, sondern auch in Worten für andere Menschen ein – die Religionszugehörigkeit spielt dabei für die Kirchen in Deutschland eine untergeordnete Rolle.

Die zweite Kümmerfunktion der Kirche ist ganz greifbar, zum Beispiel beim sogenannten Agape-Mahl. Diese Tradition, an die g*ttesdienstlich gelegentlich noch beim Tischabendmahl am Gründonnerstag oder in der Evangelischen Jugend angeknüpft wird, darf nicht außer Acht gelassen werden als Verständnishintergrund dafür, warum zusammen „gegessen“ wird. Natürlich stiftet Essen Gemeinschaft, aber es ist auch einfach bitternötig. Mit dem Agape-Mahl, dem Liebes-Mahl, ist im Neuen Testament und in der frühen Kirche ein Sättigungsmahl für die Gemeinde neben dem Abendmahl gemeint. Heute übernehmen die Tafeln diese Aufgabe in unserer Gesellschaft weit über die Gottesdienstgemeinden hinaus. Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der es zugleich viel Armut gibt. Häufig gibt es Verbindungen der Tafeln zu Kirchen und Gemeinden (z.B. über Kollekten, Essenspenden) und ähnliche kirchliche Angebote (z.B. Vesperkirchen), wo es nicht von vornherein die kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen wie Diakonie und Caritas sind, die Tafeln betreiben.

Bei der dritten Kümmerfunktion der Kirche wird es kritisch: Heilungen wurden und werden immer noch ableistisch, also nicht disabilitysensibel gelesen. Auch dort, wo von „Hilfe zum Leben“ gesprochen wird, geht es häufig in diese Richtung. An der beliebten und bekannten Zachäus-Geschichte (Lukas 19) können wir allerdings lernen, was damit auch gemeint sein kann: Menschen aus ihrer Vereinzelung lösen; Am-Rand-Stehende wahrnehmen und Integrationsangebote schaffen.

Kolumne: Sektion F

In unserer Kolumne „Sektion F“ schreibt Carlotta Israel über feministische Theologie und Kämpfe in Kirche und Wissenschaft. Was haben Feminist:innen unterschiedlicher Generationen einander zu sagen? Welche feministischen Fragestellungen können die Diskussion in Kirche und Gesellschaft bereichern? Als Feminismus-Agentin begibt sich Carlotta Israel für uns auf die Spuren des Feminismus in Kirche und Theologie.

Care ist out

Das Kümmern ist Kern der Kirche – historisch und theologisch. Das Kümmern der Kirchen ist gesellschaftlich notwendig. Und es nützt ihr selbst. Aber Care, also sich kümmern, ist anscheinend out. Care ist deswegen out, weil die Gefahr des Paternalismus droht, also eine Vereinnahmung von Hilfs- und Schutzbedürftigen und ein Überstülpen von Lehren und Vorstellungen, die eine Person vielleicht gar nicht will. Das große Zauberwort unserer Zeit ist Selbstoptimierung. Nach dem Prinzip: Wenn Du es brauchst, dass sich jemensch um dich kümmert, dann hast Du dich nur noch nicht genug um dich selbst gekümmert!

Dass Care out ist, zeigen aber auch die Zahlen: Zunächst einmal die Gehälter, die mit professionell geleisteter Care-Arbeit in unserer Gesellschaft erzielt werden, und auch der Umstand, dass private Care-Arbeit nicht bezahlt wird. Dass Care out ist, zeigt sich auch daran, dass in einem gesellschaftlichen Rahmen, der nach wie vor von männlicher Dominanz und Privilegierung geprägt ist (vgl. Gender Pay Gap), Care vor allem weiblich ist.

Im zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung wurde der Gender-Care-Gap erhoben. Demzufolge leisten Frauen 44,3 Prozent mehr unbezahlte Care-Arbeit. Dazu zählt übrigens auch das Ehrenamt! Wer sich einmal unter Ehrenamtlichen in der Kirche umschaut, wird bestätigen können, dass es vor allem Frauen sind, die sich ehrenamtlich engagieren. In anderen Zahlen ausgedrückt bedeutet der Gender-Care-Gap, dass Frauen im Durchschnitt (!) pro Woche 30 Stunden unbezahlte Care-Arbeit leisten und Männer knapp 21 Stunden. Pro Tag sind das 79 Minuten Unterschied. Die Lücke schließt sich langsam. Let’s hope for the best!

G*d cares for you!

Die Kirchen müssen sich also selbstkritisch befragen, wie sie nicht mehr paternalistisch und vor allem, wie sie sicherer für alle Beteiligten ihre Care-Arbeit ausüben können. Das gilt für alle Kümmerfunktionen der Kirche, wie ich sie gerade beschrieben habe.

Gerade im Wettbewerb mit anderen Arbeitgeber*innen um Fachkräfte, die häufig „weniger attraktive“ Care-Berufe ausüben, müssen die Kirchen sich deutlich für Arbeiternehmer*innen einsetzen. Viele von ihnen klagen über Überforderung und Überlastung. Das hat Auswirkungen auf die Qualität der geleisteten Care-Arbeit und auf die Gesundheit der Arbeitnehmer*innen. Ich wünsche mir eine Kirche, die beides im Blick behält, nicht nur in ihren politischen Forderungskatalogen, sondern in der praktischen Gestaltung der Arbeit in ihren Care-Einrichtungen.

Viele Sorgeberechtigte wuppen zurzeit über die Maße viel und geben schon alles. In den Kirchen könnten wir Räume schaffen für unkonventionelle Lösungen an den Grenzen von professioneller und privater Care-Arbeit. Wer setzt statt auf Selbstoptimierung auf Gemeinschaftsstiftung? Wie steht es um Spielgruppen und Co. im Gemeindehaus, um die Nachbar*innenschaftsarbeit? Wer macht politisch auf Pflege- und Betreuungsnotstand beharrlich aufmerksam? Verstehen wir, in welchen Nöten Menschen leben, die auf professionelle Care-Arbeit angewiesen sind und wie können wir sie stärker in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellen und in der Gestaltung unseres (kirchlichen) Lebens berücksichtigen?

Wie schön ist doch ein ernsthaftes „I care for you“: „Ich sorge mich um Dich, ich umsorge Dich, ich versorge Dich. So viel du brauchst. Ich sorge mich darum, was Du brauchst – nicht darum, was ich für Dich für gut halte. Ich biete Dir etwas an. Vielleicht möchtest Du nochmal kurz darüber nachdenken, ob das helfen könnte. Aber ist nur ein Versuch. Überlege es dir.“ Ist nicht genau das „Kommunikation des Evangeliums“ und ein Ausblick auf eine andere und bessere Welt?


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