Frau Doktor (10): „Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wagt es!“
Zwischen Kindern, Kirche und traditionellen Frauenbildern: Margot Käßmanns Promotion vor 30 Jahren erscheint uns heute so aktuell wie damals.
1985 wurde ich ordiniert. Damals gab es einen „Pfarrerüberschuss“. Daher erhielt ein Ehepaar lediglich eine Pfarrstelle, die entweder eine(r) der beiden wahrnehmen oder geteilt werden konnte. Da ich bereits eine Tochter hatte und mit Zwillingen schwanger war, befand meine Kirche, es sei besser, mein Ehemann würde die Pfarrstelle allein übernehmen, mit drei kleinen Kindern könne ich eine halbe Pfarrstelle nicht wirklich ausfüllen.
Ich war in hohem Maße frustriert. Meine Examina waren sehr gut und ich fühlte mich ausgebremst. Zwei Jahre zuvor war ich überraschend in den Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen gewählt worden. Werner Simpfendörfer, damals Generalsekretär der Ökumenischen Akademien und Laienzentren in Europa, sagte: „Mach in der Zeit deinen Doktor. Dann kann dir nicht so schnell jemand sagen, du seist nicht kompetent.“ Ich habe sehr gezögert. Traue ich mir das zu? Ist das nicht eine Nummer zu groß für mich?
Also suchte ich den Professor auf, bei dem ich meine Arbeit in systematischer Theologie geschrieben und die er mit „sehr gut“ bewertet hatte. Seine Haltung war eigentlich positiv, aber für mich irritierend. Er dozierte über das mögliche Thema, ich schrieb fleißig mit. Nach zwei Treffen war mir klar: Eigentlich hat er Interesse an dem Thema, ich aber nicht. Ökumene war für mich weniger Dogmatik, die Lehrdifferenzen zwischen römischen Katholiken und Lutheranern mit den endlosen Dokumenten der möglichen Annäherung in Fragen von Taufe, Abendmahl und Amt schienen mir so weit weg von dem, was Christen im Alltag bewegt. Also habe ich freundlich geschrieben, eine Promotion sei wohl doch nicht mein Weg.
Aber Werner Simpfendörfer blieb hartnäckig. „Frag doch mal bei Konrad Raiser nach“, sagte er. Ich habe gezögert. Konrad Raiser hatte ich als stellvertretenden Generalsekretär im Ökumenischen Rat der Kirchen erlebt, jetzt war er Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität in Bochum. Ein beeindruckender Mann. Konnte ich den einfach so anfragen? Ich habe mich getraut, einen Brief geschrieben (Mails gab es damals noch nicht) und er lud mich freundlich ein, ihn in Bochum zu besuchen. Etwas unsicher fuhr ich mit dem Auto dorthin – eine kleine Dorfpfarrerin in das befremdliche Ruhrgebiet mit den vielen Autobahnen (auch Navi gab es noch nicht!). Es war der 28. Mai 1987, ein gutes Jahr nach der Geburt meiner Zwillingstöchter. Das weiß ich, weil im Radio den ganzen Tag über die Landung von Matthias Rust mit einem kleinen Flugzeug in Moskau berichtet wurde.
Das Treffen war wider Erwarten völlig entspannt! Bei Raisers Zuhause gab es ein kleines Mittagessen und der Professor fragte: „Wofür interessieren Sie sich?“ „Für den Ökumenischen Rat und die Frage der Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd!“, sagte ich – so ungefähr. Konrad Raiser drückte mir zwei Bücher in die Hand, wenn ich die gelesen hätte, sollte ich anrufen und einen neuen Termin vereinbaren. Eines davon war die Doktorarbeit von Karl-Heinz Dejung, „Die Ökumenische Bewegung im Entwicklungskonflikt“. Er hatte die Jahre 1910-1973 mit ihren Diskussionen und Konferenzen aufgearbeitet. Das andere war, wenn ich mich richtig erinnere, von Leonardo Boff: Kirche, Charisma und Macht, erschienen 1985.
Ich habe, wie es so schön heißt, „Feuer gefangen“. Auf einmal fielen Puzzleteile zusammen. Mein Engagement im Ökumenischen Rat der Kirchen, die Sehnsucht danach, theologisch zu reflektieren, was mich persönlich beschäftigte, und die Lust daran, dem allem wissenschaftlich nachzugehen. Wenn ich dazu promovieren könnte, wäre das großartig.
Adrenalinschub im Studierzimmer
Wenige Wochen später fuhr ich wieder nach Bochum, dieses Mal gut vorbereitet und mit der Hilfe von Konrad (inzwischen kennen wir uns ja bald 35 Jahre) entwickelten wir die Idee, dass ich an die Doktorarbeit von Karl-Heinz Dejung (den ich bald auch persönlich kennenlernte) anknüpfen könnte, um die Weiterentwicklung der Debatten nach 1973 zu erforschen, zu beschreiben, aufzuarbeiten.
Ich teilte der Landeskirche mein Promotionsvorhaben mit. Ein Kollege sagte etwas süffisant: „Na, junge Frau, da haben Sie sich ja viel vorgenommen mit ehrenamtlichem Pfarramt und drei Kindern“. Wirklich ermutigend klang das nicht. Aber mir wurde das Bischof D. Vellmer-Stipendium zugesprochen: Drei Jahre lang 600 Mark im Monat! Davon konnte ich eine Tagesmutter bezahlen, die nun mehrere Tage vormittags ins Haus kam, um die Zwillinge zu betreuen, während die ältere Tochter im Kindergarten war.
Ein befreundeter Kollege sagte: Schaff dir bloß einen Computer an! Ich war eher ablehnend. Aber er meinte, so ließen sich die Fußnoten ganz einfach je nach Einfügung neu durchnummerieren. Das hat mich überzeugt, hatte ich doch bei den Examensarbeiten oft mit Tipp-Ex mühevoll versucht, die Zahlen anzupassen – das kann sich heute niemand mehr vorstellen! Also: Computer gekauft, ein riesiges, brummendes Teil, 2000 Mark und mit Kredit. Eigentlich war es eine Schreibmaschine mit verbesserter Funktion.
Für mich war das eine unwahrscheinlich anstrengende und gleichzeitig beglückende Zeit. Es war genau das richtige Maß. Wenn „unsere Leni“ morgens kam, freuten sich die Kinder auf sie. Und ich ging in die kleine Besenkammer, die wir in mein Studierzimmer umfunktioniert hatten, steckte Ohropax in die Ohren und begab mich auf Spurensuche in ökumenischen Texten.
Ich lernte die Konferenzorte und ihre Bedeutung geradezu auswendig, war fasziniert von neuen Erkenntnissen über Ekklesiologie, Befreiungstheologie, die Verbindung von theologischer und politischer Debatte. Es war wie ein Adrenalinschub. Mittags war ich dann wieder glücklich, Zeit mit meinen Kindern zu verbringen und innerlich frei, Lego zu bauen, im Garten zu spielen, Essen zu kochen.
„Du beißt dich da durch!“
Aber es war auch mühsam. Da fehlte Literatur. Die Fahrt zur Universitätsbibliothek in Marburg musste organisiert werden, indem meine Mutter kam, um die Kinder zu hüten, oder ich gar nach Genf in das Archiv des ÖRK musste. Letzteres war zum Glück ab und an über eine Konferenz möglich, was Fahrt- und Unterbringungskosten gespart hat. Mein Mann hat das mitgetragen, auch weil er inhaltlich hinter der Sache stand. Zwischendurch wollte ich aufgeben, habe gedacht, die Arbeit wird niemals fertig, ist absolut irrelevant, viel zu mühsam, mit der Familie nicht zu vereinbaren.
Und einmal, als ich dachte, jetzt sieht es doch „rund“ aus, kam ein siebenseitiger (!) Brief von Konrad, das sei ja alles schön und ein guter Ansatz, aber folgenden Fragen müsse ich doch noch intensiver nachgehen. Da hätte ich heulen können. Das sah nach einem riesigen Berg zusätzlicher Lektüre und Recherche aus. Aber ich bin auch zäh und dachte: Du beißt dich da durch! Jetzt aufgeben wäre doch Unsinn.
Im Laufe der Zeit wurde mir klarer, wohin ich eigentlich will. Gliederung ist ja entscheidend, aber eben auch die These. Der Ausbildungsdezernent der kurhessischen Landeskirche, Dr. Werner Hassiepen, holte mich ziemlich „auf den Teppich“, als er sagte: „Promotionen sind eigentlich Fleißarbeit. Sie zeigen, dass Sie wissenschaftlich arbeiten können. Aber ein echter Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis sind sie eher nicht.“ Das ist gewiss nicht ganz wörtlich wiedergegeben, war für mich aber eine hilfreiche Ernüchterung.
Am Ende habe ich den Weg der entwicklungspolitischen Debatte im Ökumenischen Rat im Anschluss an Dejung wiedergegeben. Im letzten, sechsten Kapitel habe ich versucht, meine eigene These zu entfalten. Im Abendmahl, der Eucharistie sehe ich den Schnittpunkt zwischen Ekklesiologie und Ethik. Wenn wir symbolisch Brot und Wein miteinander teilen, geht es auch darum, das real zu tun zwischen denen, die viel haben und denen, die hungern.
Uns trennen als Konfessionen weniger die dogmatischen Differenzen als die ökonomischen. Eine lutherische Christin und ein römischer Katholik in Südafrika sind sich näher als ihren jeweiligen Konfessionsgeschwistern in Deutschland. Die Einheit der Kirche ist durch die Differenz zwischen Arm und Reich mehr in Frage gestellt als durch Differenzen in der Lehre von Transsubstantiation oder Konsubstantiation. Als mir die These immer klarer wurde, schrieb es sich stetig leichter.
„Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wagt es!“
Ich bin unendlich dankbar, dass ich promovieren konnte. Werner Simpfendörfer, Konrad Raiser, meinem damaligen Ehepartner, dem Stipendium, der Tagesmutter, meiner Mutter, meinen Kindern. Nie wieder habe ich so intensiv lesen, denken, Zusammenhänge erkennen können. Später als Pfarrerin, Generalsekretärin, Landesbischöfin, Ratsvorsitzende, Reformationsbotschafterin war ich dankbar, die Zeit zu finden, in Ruhe einen Artikel zu lesen. Insofern ermutige ich alle Frauen: Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wagt es! Es braucht Disziplin und Durchhaltevermögen. Aber es gibt eine Basis an Wissen, die dir niemand mehr nehmen kann.
Allerdings bin ich ungeduldig. Ich wollte irgendwann, dass das ein Ende findet. Und das ist auch gut so. Es gäbe bei jeder Promotion immer noch neue Aspekte, andere Literatur. Ein Ende finden, ist wichtig! 1989 habe ich die Dissertation eingereicht. Meines Wissens war ich die erste der vielen Promovenden von Konrad Raiser, die fertig wurde.
Es folgte die mündliche Prüfung in allen theologischen Fächern. Ich bin aufgeregt von Spieskappel nach Bochum gefahren. Meine Mutter hatte die Kinderbetreuung übernommen, mein Mann war auf Konfirmandenfreizeit. Die zwei Stunden des Rigorosums waren intensiv! Aber ich habe bestanden, ich hatte geradezu Freude daran, mein Wissen zu präsentieren. Auf der Rückfahrt nach Hause dachte ich: Nicht zu fassen! Du hast einen Doktor in Theologie! Das war ein weiter Weg für die Tochter einer Krankenschwester und eines KfZ-Meisters. Ich war dankbar und ja, auch stolz.
Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis die Arbeit gedruckt im Kaiser-Verlag erschien, erst dann durfte ich den Doktortitel führen. Kurz vor Drucklegung wurde unsere vierte Tochter geboren. Ich konnte sie gerade noch so in die Widmung aufnehmen. Das gedruckte Buch in der Hand zu halten war bewegend. „Die eucharistische Vision. Armut und Reichtum als Anfrage an die Einheit der Kirche“. Ich bin bis heute sehr zufrieden mit Thema und Titel.
Ein gutes Fundament
Was es darüber hinaus bedeutet, promoviert zu haben, hat sich später erwiesen. Immer wieder wird bei Frauen gesagt: „Sie ist ja nett, aber keine gute Theologin“. Das habe ich später als Bischöfin bei Stellenentscheidungen so oft gehört – und gekontert. Auch über mich haben das gewiss manche gesagt.
Aber eine Promotion steht schwarz auf weiß. Ja, vielleicht kein großer Beitrag zur Wissenschaft, aber der Beweis, dass du erfolgreich wissenschaftlich gearbeitet hast. Die Promotion hat mir auch die Möglichkeit gegeben, viermal – in Leipzig, Marburg, Atlanta und Bochum – an der Universität zu lehren. Anlässlich eines Porträts über mich hat der STERN übrigens meine Doktorarbeit im Original in Bochum abgerufen und auf Plagiate überprüft. Sie ist durchgegangen. Copy-and-Paste gab es 1987/89 noch nicht …
Eine Promotion braucht langen Atem, Geduld, gute Nerven. Aber sie lohnt sich. Was ich damals gelesen und recherchiert habe, hat mir ein gutes Fundament für viele inhaltliche Debatten gegeben. Es war eine so intensive Zeit, noch einmal: Ich bin dankbar dafür. Und das Thema beschäftigt mich bis heute.
Start der 3. Staffel: „Frau Doktor“ geht weiter!
Mit dieser Ausgabe beginnt die 3. Staffel unserer Serie „Frau Doktor“, in der Theologinnen von ihrem Weg zum Doktortitel berichten. Zunächst stehen Theologinnen im Fokus, die schon vor längerer Zeit promoviert haben. Wie hat sie ihr Promotionsthema durch das Berufsleben begleitet? Hat sich die Anstrengung gelohnt?
Im Fokus der Theologie stehen viel zu häufig alte und tote Männer, noch immer trauen sich Mädchen und Frauen eine Promotion weniger zu als gleichaltrige Jungen und Männer. Wir wollen auch die Herausforderungen für Frauen in der Wissenschaft nicht ausblenden. Deshalb kommen sie hier zu Wort.
Bisher erschienen:
Folge 1: Dr. Teresa Tenbergen – Can a song save your life?
Folge 2: Dr. Andrea Hofmann – Horizont in Sicht
Folge 3: Dr. des. Claudia Kühner-Graßmann – Frauensolidarität darf hier nicht aufhören!
Folge 4: Dr. Christiane Renner – Dr. theol. Christiane
Folge 5: Dr. Maike Maria Domsel – Zwischen den Welten
Folge 6: Dr. Annika Schreiter – Eine Zeit der Weichenstellungen
Folge 7: Julia Rath – Diversität in der Wissenschaft
Folge 8: Katharina Leniger – Versöhnung im Knast
Folge 9: Dr. Cordula Heupts – Auf den Spuren der Herrlichkeit Gottes
Folge 10: Dr. Margot Käßmann – „Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wagt es!“