Frau Doktor (8): Versöhnung im Knast

Katharina Leniger promoviert über die Bedeutung der Versöhnung für die Resozialisierung von Straftäter:innen. Über ihren Weg ins Gefängnis und wieder raus schreibt sie in der neuen Ausgabe der Serie „Frau Doktor“.

Wieder einmal sitze ich vor einem virtuellen leeren Blatt Papier. Schön umrandet ist es von Funktionen, kräftigen und pastelligen Blautönen. Der Rahmen passt – schreiben muss ich selbst. Wieder diese Fragen: „Interessiert das überhaupt jemanden?“, „Was hast Du schon zu sagen?“, „Reicht das?“. Es ist ein Kampf mit dem wissenschaftlichen Schreiben, jedes Mal aufs Neue und es ist keineswegs so, dass der Ausgang bereits vorgezeichnet ist.

Über Sieg und Niederlage, etwa einen schlechten, aber eingereichten oder großartigen, jedoch unvollendeten Text, entscheiden keineswegs nur der eigene Fleiß, die sprachliche Brillanz, die Intelligenz. Es muss viel stimmen, damit eine Promotion gut oder gar exzellent wird – oder wenigstens eingereicht werden kann.

Die Rahmenbedingungen für einen zügigen Abschluss meines Promotionsprojektes sind beispielsweise ausgezeichnet und das ist mir absolut bewusst: Mannigfaltige Möglichkeiten, meine Talente und Wünsche auszuleben, eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Eltern für anderthalb ellenlange Studiengänge plus Promotionszuschuss, die Begleitung durch wertvolle Freunde, das Glück einer Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin, die individuelle Förderung und das schier endlose Vertrauen meiner Doktormutter, keine private Care-Verantwortung, solidarische (Frauen-)Netzwerke. Aufgeben ist meins ohnehin nicht. Aber was, wenn das Projekt trotz allem scheitert? Würde ich den Moment bemerken, an dem ich mir besser eingestehen sollte, dass es nichts mehr wird?

„Totale Institutionen“ und Corona

Pessimismus hin oder her: Ich bin guten Mutes. Mein sozialethisches Thema, das Formen wiederherstellender Gerechtigkeit und Versöhnung in den Strukturen des deutschen Justizvollzugs untersucht, ist auch nach mehr als zwei Jahren keine Sekunde langweilig geworden. Die Beschäftigung mit „dem Knast“ ist nie eintönig, insbesondere ist 2020 auch in Bezug auf den Justizvollzug ein besonderes und besonders bedenkenswertes Jahr.

Die Corona-Pandemie hat zwar einerseits gezeigt, dass wir Schreibtischtäter:innen nicht unbedingt hilfreich in akuten Krisensituationen sind, andererseits hat sie auch offenbart, dass die wissenschaftliche Theologie gerade im Bereich der Ethik zu den Geschehnissen nicht schweigen darf. Was während der Tage des Lockdowns in starken, „totalen“ Institutionen wie dem Gefängnis passierte – Isolierung, Menschenrechtseinschränkungen, Verfügungsaktionismus – bedarf ethischer Reflexion und der sprachlichen Vermittlung im Sinne der Marginalisierten.

Was mich erdet, ist die Arbeit mit Gefängnisseelsorger:innen: In Ethikkomitees werden Situationen der Handlungsunsicherheit und „Magengrummeln“ besprochen, Güter und Werte abgewogen, Handlungsempfehlungen erarbeitet. Dies war schon vor der Pandemie in einigen Justizvollzugsanstalten passiert, jedoch treten aktuell besondere Themen zu Tage: Wie ist „während Corona“ Gesundheitsfürsorge in ein Verhältnis mit Freiheitsrechten zu bringen – insbesondere, wenn es um Menschen geht, die in hohem Maße auf Andere angewiesen sind?

Im Frühjahr 2020 sind Menschen in Krankhäusern und Alten- und Pflegeeinrichtungen besonders in das gesellschaftliche Bewusstsein gerückt. Sie wurden aus Gründen des Schutzes von ihren Bezugspersonen isoliert, was vor allem angesichts der hohen Sterbezahlen auf so genannten Corona-Stationen eine qualvolle Situation darstellt – für Bewohner:innen, Patient:innen, Angehörige und nicht zuletzt für die Mitarbeitenden in den Einrichtungen.

Auch im Gefängnis gab es weitgehende Maßnahmen eines Lockdowns. Besuch, Urlaub, Ausgänge, Arbeit, Resozialisierungsmaßnahmen wurden ausgesetzt, notdürftig durch Anrufe und Skype ersetzt. Der offene Vollzug wurde vielerorts zum geschlossenen Vollzug. Zwar wurde für viele Gefangene mit kürzeren Haftzeiten oder Ersatzfreiheitsstrafen die Haft ausgesetzt, dennoch zeigten Berichte, dass durch diese Maßnahmen die Anstalten vielerorts lediglich nicht mehr überbelegt waren.

Abstand halten wird in Hafträumen, die von mehreren Personen bewohnt werden, zur Farce. Um missbräuchlichen Umgang zu vermeiden, konnte kein Desinfektionsmittel ausgegeben werden. Gleichzeitig wurden erst nach einigen Wochen flächendeckend Masken an Gefangene ausgegeben, auch besteht nicht in jeder Anstalt überhaupt eine Maskenpflicht. Problematisch sind vor allem Neuzugänge und nicht zuletzt die Bediensteten. Seit Arbeitsstellen und Ausgänge „draußen“ wieder möglich sind, lauert die Infektion auch drinnen überall – für Bedienstete und Inhaftierte.

Das Gefängnis als sozialethisches Themenfeld?

Diese Ausführungen zeigen: Corona wirkt – wie in vielen anderen Fällen auch – wie ein Brennglas auf gesellschaftliche Bereiche, die sich in einer Schieflage befinden. Die Schieflage im Gefängnis ist eine besondere, denn es handelt sich um eine komplexe Gemengelage, die sich zwischen den Inhaftierten und den Bediensteten innerhalb der Anstalt aufspannt, jedoch weit darüber hinaus geht und beispielsweise Gerichte, Verwaltung, Angehörige, Beschädigte und die Gesellschaft als Ganze betrifft.

Welches Ziel setzten Politik und Gesellschaft dem Justizvollzug? Wie können Straftäter:innen – wie es das Strafvollzugsgesetz vorsieht – fähig gemacht werden, ihr Leben verantwortungsvoll und ohne das Begehen weiterer Straftaten zu gestalten? Dies meint, ganz allgemein gesprochen, Resozialisierung.

Während des Vollzugs von Freiheitsstrafen werden Straftäter:innen Handlungsfelder eröffnet, die zu ihrer Resozialisierung beitragen sollen. Häufig jedoch, ohne die durch die Straftat geschädigte Beziehung zu den Geschädigten oder der Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Es ist durchaus notwendig, nach „vorne“ zu sehen und die Taten der Vergangenheit als durch die Strafe abgebüßt zu betrachten. Dennoch zeigen viele Aufarbeitungsprojekte, die nach Gewalttaten Kommunikation und Dialog zwischen „Täter*innen“ und „Opfern“ ermöglichten, dass sie zur Stabilisierung des so genannten sozialen Friedens beigetragen haben.

Eine Aussprache, oder gar Versöhnung, ist ratsam, denn der oder die Täter: in werden schließlich später wieder Nachbar:innen von Opfern sein. Solche Foren ermöglichen Formen der so genannten wiederherstellenden, restaurativen Gerechtigkeit, wie sie nach Unrechtsregimen beispielsweise in Südafrika durch die Errichtung von Truth- and Reconciliation Commissions forciert wurden. Ich möchte in meinem Dissertationsprojekt untersuchen, inwiefern Formen der wiederherstellenden Gerechtigkeit auch für die Resozialisierung genutzt werden können.

Mein Weg ins Gefängnis – und wieder raus

„Wie bist Du denn ins Gefängnis gekommen?“ – das ist wohl neben der Frage, was man als Frau in der katholischen Kirche eigentlich „werden“ wolle, meine persönliche most frequently asked question. Wenn ich dann erzähle, dass mich die Arbeit im Gefängnis, oder besser: für die Menschen dort, immer schon reizte, ernte ich häufig hochgezogene Augenbrauen, unter denen ich von mindestens einem Augenpaar sehr genau von oben bis unten gemustert werde.

Ja, es passt nicht ins Bild, dass ich als blonde (ja, auch das!), katholisch sozialisierte Frau Ende zwanzig mich mit nicht mehr ganz unschuldigen – vorwiegend männlichen – Inhaftierten abgebe. Aber während meiner Beschäftigung habe ich das Gefühl, dass meine Arbeit Menschen zugutekommen kann, die sonst unter dem gesellschaftlichen Radar laufen, deren Existenz allenfalls für journalistische Sensationsmeldungen taugt.

Natürlich weiß ich, dass die Verfassung einer theologischen Promotion den Lauf des deutschen Justizvollzugs nicht ändern wird. Und doch habe ich während meiner Praktikumszeit und in Gesprächen mit Seelsorger:innen im Vollzug gemerkt, dass es einen Unterschied macht, wenn eine Person mehr diesen Teil des Gemeinwesens ein kleines Stück öffentlicher macht.

Zu meiner Geschichte gehört aber natürlich auch, dass sich zeitlich gut fügte, was meinem Interesse entsprach: Meine Doktormutter wurde nach Würzburg berufen, als ich gerade im letzten Drittel meines Studiums war – und sie brachte ihre Habilitation im Bereich der Ethik im Vollzug mit. Ich hatte nie den forcierten Plan A, eine theologische Promotion zu verfassen, eher eine kleine Hoffnung oder Idee davon, dass es eine spannende Gelegenheit wäre, wenn sie sich böte.

Als sie sich bot, ergriff ich sie dankbar. Die aktuellen Ausbildungskonzepte mir bekannter Bistümer für pastorale Berufe führten dazu, dass diese Entscheidung schnell getroffen war, obwohl ich mir durchaus vorstellen könnte, pastoral, seelsorgend, beratend tätig zu sein. Dass ich durch eine Elternzeitvertretung geradezu nahtlos nach dem Studienabschluss in ein universitäres Beschäftigungsverhältnis – wenn auch von Befristung zu Befristung – gerutscht bin, hat sich als Wink des Schicksals erwiesen.

Die Anbindung an die Struktur der Fakultät, die Möglichkeit zu eigener Lehrtätigkeit und der intensive Kontakt zu Studierenden und Kolleg:innen lassen die Zeitfenster für die Arbeit an eigenen Forschungsfeldern kleiner werden, bereichern sie aber inhaltlich ungemein und schaffen Abwechslung und fachliche Vertiefung gleichermaßen.

(Promotions-)Lebenslanges Lernen

Ich bin und bleibe also eine Lernende. Zu erkennen, dass es diesen einen Sehnsuchtsmoment nicht geben wird, an dem man Wissen in der Hand zu haben scheint, hat mich unendlich befreit. Es wird immer diese Augenblicke vor eigenen Lehrveranstaltungen geben, in denen der Puls rast und ich mir absolut inkompetent vorkomme. Es wird immer die verzweifelten Couchabende geben, an denen ich nicht mehr weiß, ob ich überhaupt jemals etwas zu meinem Promotionsthema wusste. Aber es wird auch immer kleine Aha-Erlebnisse und Erfolge geben, wo etwas gelingt, jemand zufrieden ist – vielleicht sogar ich selbst es bin – oder ein Artikel sowohl gelungen ist als auch rechtzeitig abgeschickt werden konnte.

Der Rahmen passt, schreiben muss ich selbst. Aber – Gott sei Dank – nicht alleine.

2. Staffel unserer Kolumne „Frau Doktor“

Unsere Serie „Frau Doktor“, in der Theologinnen von ihrem Weg zum Doktortitel berichten, geht in die 2. Staffel! Im Fokus der Theologie stehen viel zu häufig alte und tote Männer. Wir wollen die Leistungen junger Wissenschaftlerinnen ins rechte Bild rücken. Noch immer trauen sich Mädchen und Frauen eine Wissenschaftskarriere weniger zu als gleichaltrige Jungen und Männer. Wir wollen auch die Herausforderungen für Frauen in der Wissenschaft nicht ausblenden. Deshalb kommen sie hier zu Wort.

Bisher erschienen:

Folge 1: Dr. Teresa Tenbergen – Can a song save your life?
Folge 2: Dr. Andrea Hofmann – Horizont in Sicht
Folge 3: Dr. des. Claudia Kühner-Graßmann – Frauensolidarität darf hier nicht aufhören!
Folge 4: Dr. Christiane Renner – Dr. theol. Christiane
Folge 5: Dr. Maike Maria Domsel – Zwischen den Welten
Folge 6: Dr. Annika Schreiter – Eine Zeit der Weichenstellungen
Folge 7: Julia Rath – Diversität in der Wissenschaft
Folge 8: Katharina Leniger – Versöhnung im Knast