Junge Bläserinnen am Ende des Abschlussgottesdienstes auf dem Hauptmarkt, Foto: DEKT / Bongard

Zingsheim vergeigts

Im WDR schüttet der Musikkabarettist Martin Zingsheim Spott und Häme über den Kirchentagssong „Die Zeit ist jetzt“ aus. Der Mann gehört auf den Kirchentag! Eine Glosse.

„Zingsheim geigt rein“ heißt die Audio-Kolumne von Martin Zingsheim auf WDR 3, in der laut Sender „Klassische Musik und Humor jede Woche eine unterhaltsame Verabredung“ haben sollen. Angekündigt wird ein „wilder Mix aus feinster Klassik und kritischer Satire“. Dem Kirchentag widmet er sich in der Folge vom 7. Juni „mit einer messerscharfen Analyse des teuflischen [sic!] guten Mottosongs“. Vor jedes Substantiv in den Teasern zu Zingsheims Sendung gehört mindestens ein Adjektiv. Das zeugt nicht gerade von Textkompetenz, aber wir wollen uns trotzdem möglichst unvoreingenommen seiner Kritik widmen.

Zingsheim kommt von Händel, von Telemann, von Bach her. Das stellt er gleich zu Beginn seiner Kolumne klar. Dass es sich bei ihr um deutsches Kabarett handelt, merken aufmerksame Hörer:innen sofort am betont listigen „satirischen“ Ton, der zugleich unfassbare Weltläufigkeit und zynische Weltabständigkeit vermitteln will. Aus so einer Haltung heraus kann Zingsheim natürlich mit dem Kirchentagsmottosong „Die Zeit ist jetzt“ (YouTube) von Ronja Lunz, Judy Bailey, Sam Samba und Timo Böcking überhaupt nichts anfangen.

Ein „evangelikaler Partykracher“?

Den Song diffamiert Zingsheim als „evangelikalen Partykracher“, obwohl in ihm nicht ein einziger evangelikaler Zungenschlag enthalten ist. „Gott sitzt mit uns im selben Boot“ und „Gott geht mit uns“, die einzigen beiden expliziten Glaubensaussagen im Lied, mögen abgedroschene Phrasen sein, evangelikal oder wie hier offenbar insinuiert werden soll: fundamentalistisch sind sie gerade nicht. Insbesondere bei Johann Sebastian Bach wird der promovierte Musikwissenschaftler da eher fündig.

Den göttlichen Kairos, die erfüllte Zeit aus Markus 1, 15, übersetzen die LiedautorInnen sicher elementarisierend und säkularisierend – also gut protestantisch – mit: „Ein kleiner Moment kann riesig sein“. Zingsheim aber findet, „ein beschissenes Lied kann eine Ewigkeit dauern“ und unterstellt dem Song, ein „kirchenmusikalisches, ja göttliches Meisterwerk der westlichen Kunstmusik“ zu sein. Was genau an diesem auf die LiedautorInnen herabsausenden Beil soll „messerscharf“ sein?

Doch lange nicht genug des akademischen Geschwätzes, das Zingsheim in Anschlag bringt, um die mangelnde musikalische Qualität des Songs zu erweisen. Von der „musikalischen Textur“ des Popsongs ist da die Rede, der doch ziemlich straight forward ist. Es würde „antiphonisch“ gearbeitet, weil im Refrain ein „Wechselgesang mit der Gemeinde evoziert“ wird. Schließlich würde gegen Ende des Songs die „Komplexität des Textgeschehens ganz bewusst auf eine einzige Ebene heruntergebrochen“. Damit meint Zingsheim das „Oh-oh, oh-oh“ am Schluss des eindeutig von neueren deutschen Popsongs beeinflussten Liedes.

Man muss weder Mark Forster & Co. noch das Kirchentagsliedgut abfeiern, aber Popmusik ausgerechnet mit Bach, Telemann und Händel zu Leibe rücken zu wollen, kündet von wenig Originalität. Genau die aber vermisst Zingsheim wohl im „beschissenen“ Kirchentagssong. Dabei ist das Lied völlig ok, nur das Video ist von der Kirchenkrankheit „Low-Budget-Value“ infiziert. Mir gefällt, dass es sowohl Ohrwurmqualität hat als auch – im Unterschied zu anderen Kirchentagssongs der vergangenen Jahre – für den Gemeindegesang geeignet ist. Als ich am späten Samstagabend durch die Nürnberger Innenstadt streifte, sangen sich Grüppchen von Jugendlichen das Lied klatschend und im Wechsel – sorry: antiphonisch – singend über die Straße hinweg zu.

Wer singt schon noch?

Alldem darf man natürlich mit Geringschätzung und gespieltem Bildungsdünkel begegnen. Aus dem Munde eines Kabarettisten und Musikers, ja eines Musikkabarettisten, ist das sogar besonders mutig! Auf den Nürnberger Straßen sangen schließlich seine zukünftigen Hörer:innen. Dass Zingsheim um der musikalischen Qualität Willen selbstaufopfernd Publikumsbeschimpfung betreibt, muss man ihm hoch anrechnen.

Die deutschen Chorverbände zählen in ihren Organisationen rund 55.000 Chöre mit etwa 2,1 Millionen Mitgliedern. Rund 60% der Chöre sind übrigens in den evangelischen und katholischen Kirchengemeinden angesiedelt. Die in den vergangenen zwanzig Jahren entstandenen Chöre vor allem im Rock- und Popbereich sind darin noch nicht einmal enthalten. Aber die singen ja auch nicht Bach und Händel! Der Anteil kirchlicher Ensembles unter den Amateurorchestern in Deutschland, in denen mindestens 1,6 Millionen Menschen mitwirken, beträgt 40 %. Die Hälfte davon wiederum sind die oft verschrienen Posaunenchöre. Und da ist vom freien Gesang in (Jugend-)Gottesdiensten, in Kinder- und Jugendgruppen und auf Ferienfreizeiten noch nicht einmal die Rede gewesen.

Während der Corona-Pandemie härmten sich die deutschen Kulturradios gar sehr: Mit dem temporären Verzicht auf analogen Konzert- und Theaterbetrieb stand gleich die gesamte Kulturnation Deutschland auf dem Spiel. Erst im weiteren Verlauf der Pandemie realisierten die Kulturschaffenden und -kommentator:innen, dass der Verlust von schulischem und außerschulischem Musikunterricht, der Rückgang an passageren Gelegenheiten zum gemeinsamen Musizieren und Singen für ihre Arbeit und das Kulturleben wohl viel nachhaltigere Probleme schuf als der zeitweise Verzicht auf Gagen und Publikumsapplaus.

Noch im Sommer 2023 ist allenthalben spürbar, dass das musikalische Leben in Deutschland massiv unter der Pandemie gelitten hat. In Kindergärten und Schulen wird sowieso händeringend nach Fachpersonal gefahndet. Wo es an Zeit und Kraft fehlt, da wird auch weniger gesungen und musiziert. Gruppenangebote und langfristiges Engagement in Institutionen gehen in Deutschland seit Jahren zurück. Auch in der Kirche haben Kindermusical- und Gospelchorprojekte mehr Zulauf als die herkömmliche Kurrende oder der Blockflötenkreis. An der Kirchenmusik wird überall gespart und die traditionsreichen Knabenchöre haben Nachwuchssorgen. Nicht zuletzt ist der Instrumentalunterricht auch eine soziale Frage in unserem Land, das von großer Bildungsungerechtigkeit geprägt ist.

All das kann Martin Zingsheim egal sein. Ich kenne mich mit Musik auch nicht ein Fitzelchen so gut aus wie er, aber mir dünkt: Wenn Kinder und Jugendliche nicht mehr singen, dann werden sie auch keinen Sinn für Bach, Telemann, Händel oder die Intuitive Musik Karlheinz Stockhausens und das Musikkabarett entwickeln.

EHRENSACHE – Musik im Ehrenamt

„Ohne Musik kann man eigentlich gar nicht leben“, erklärt Stephanie Schweiger ihr Ehrenamt für die Musik im Gottesdienst und die Ministrant:innen-Arbeit. Die 19-jährige Studentin schätzt vor allem die intensive Gemeinschaft. Im „EHRENSACHE“-Podcast bei Lisa Menzel erzählt Stephanie Schweiger von ihrem Ehrenamt.

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Der Mann gehört auf den Kirchentag!

Wie so viele Medienbeiträge zur Kirchenmusik kommt auch Zingsheims Verriss natürlich nicht ohne eine Erwähnung des Dichters Matthias Claudius aus. Ich weiß zwar nicht, worin der Sinn liegt, Pop vergangener Jahrhunderte gegen aktuellen Pop ausspielen zu wollen, will an dieser Stelle Zingsheim aber nur ausrichten, dass Claudius‘ „Abendlied“ in der Vertonung von Johann Abraham Peter Schulz auch auf dem Kirchentag gesungen wurde. Beim Lichtermeer auf dem Hauptmarkt von über 10.000 Sänger:innen. Womöglich von den gleichen Leuten, die auch zu Judy Baileys „freaky Beats“ abgehen.

Zingsheim empfiehlt seiner Kulturradio-Hörer:innenschaft: „Genießen Sie die neue super-crazy Seite der mega-coolen Protestanten am besten live“. Diese Einladung erwidere ich als als evangelischer Christ und Vater gerne. Ja, Zingsheim sollte einfach den Song für den kommenden Kirchentag in Hannover 2025 schreiben! Sein Lied „Wo ist das Wir?“ (YouTube) scheint mir vollumfänglich – sowohl musikalisch als auch ethisch-moralisch – geeignet zu sein. Mehr protestantische Weltschmerzverantwortung war selten! Vielleicht stellt ja der von ihm verspottete Halt, den Gott den Menschen bietet, sogar eine Antwort auf seine Frage nach dem „Wir“ da.


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