Kolumne Frau Doktor

Frau Doktor (11): „Es begann mit einer Fußnote“

Angela Berlis wurde 1996 als eine der zwei ersten Frauen zur alt-katholischen Priesterin geweiht. Auf der Suche nach ihrem Promotionsthema ist sie ihrer Intuition gefolgt.

Ich wollte eigentlich immer eine Doktorarbeit schreiben. Mein Vater, mein Großvater, ein Großonkel waren promoviert. Das war in unserer Familie also nichts Außergewöhnliches. Damals fiel mir noch nicht auf, dass die Frauen in meiner Familie nicht promoviert waren. Ich fragte nicht weiter.

Doch ich wusste: Meine Mutter, die während des Zweiten Weltkrieges in einer bayerischen Großstadt aufgewachsen war, hätte gerne das Abitur gemacht. Aber das war nach dem Krieg nicht drin. Sie musste arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Anfangs ernährte sie mit ihrem Gehalt als Krankenschwester sogar die wachsende Familie, während mein Vater über seiner Doktorarbeit brütete. Er war damals viel bei seinem Doktorvater in Berlin. Als im August 1961 die Mauer gebaut wurde, fürchtete mein Vater eine Zeit lang, nicht mehr zu seiner mit mir schwangeren Frau nach München zu kommen.

Mit dieser Geschichte bin ich aufgewachsen; meines Vaters Doktorarbeit ist also irgendwie mit mir verbunden. Von meiner Mutter habe ich das Verlangen nach Wissen mitbekommen. Sie hat dieses Verlangen bei sich selbst und bei mir mit Viellesen genährt. Wir haben uns oft über das von uns beiden Gelesene unterhalten. Als ich bereits studierte, kaufte sie sich manchmal sogar ein theologisches Fachbuch. Sie wollte mit mir im Gespräch bleiben.

Flexibel sein

Mein Studium in Bonn und auch in Utrecht zwischen 1981 und 1988 absolvierte ich bei männlichen Professoren; Professorinnen gab es in der Theologie damals kaum. Während meines Studiums begann ich mich für die Anliegen feministischer Theologie zu interessieren. An der Bonner Universität bestand damals eine Lesegruppe, die sich mit Veröffentlichungen dazu auseinandersetzte, die damals noch oft aus den USA kamen.

In der alt-katholischen Kirche wurde seit Mitte der 1970er-Jahre die Frauenordination diskutiert; am alt-katholischen Universitätsseminar setzten wir uns damals auch damit auseinander. Es war ein Thema, das andere Frauen und mich auch persönlich anging, studierten wir doch anfangs alt-katholische Theologie ohne Berufsaussichten. Dies führte vielleicht dazu, dass mir klar war, dass ich auf meinem Berufsweg flexibel zu sein hatte.

Im Herbst 1988 ging ich nach dem Abschluss des Studiums ins Vikariat. Für mich stand grundsätzlich fest, dass ich einmal promovieren würde – in welcher Disziplin das sein würde, darüber war ich mir damals noch nicht im Klaren. Ich bildete mich in Pastoralpsychologie fort und in feministischer Theologie – und genoss es, erstmals auch Frauen als Dozentinnen zu begegnen.

Ich arbeitete damals mit 50% Teilpensum in einer niederländischen alt-katholischen Küstengemeinde und fuhr regelmäßig nach Nijmegen nahe bei der deutschen Grenze, wo damals die Engländerin Mary Grey den feministisch-theologischen Lehrstuhl bekleidete – möglicherweise den ersten in Europa. Ich wollte bei ihr über feministische Ekklesiologie (Kirchenlehre) promovieren und in diesem Rahmen auch die Frage der Frauenordination behandeln. Ich selbst wurde als erste Frau in der deutschen alt-katholischen Kirche am 26. November 1988 in Essen zur Diakonin geweiht.

Offensichtlich waren auch andere Personen der Meinung, dass eine wissenschaftliche Laufbahn zu mir passen würde. Drei Jahre später – Ende 1991 – begann ich in Bonn am Alt-Katholischen Universitätsseminar als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu arbeiten. Mit meinem Promotionsprojekt blieb ich in Nijmegen, auch als Mary Grey wieder nach England zurückging. Zwei Jahre vergingen, meine Dissertation entwickelte sich in dieser Zeit neben den vielen anderen Verpflichtungen am Seminar und der wachsenden Familie (wir hatten inzwischen zwei Töchter) nur wenig. Ich arbeitete viel, aber wenig für die Dissertation.

Eine spontane Umentscheidung

Dann geschah etwas Unerwartetes: Ich hatte beschlossen, in meiner Dissertation ein Kapitel über Frauen in der alt-katholischen Kirche zu schreiben. Damals war nur sehr wenig über dieses Thema bekannt. Wissenschaftlich war es Brachland.

In einem Artikel des Jesuitenpaters und Kirchenhistorikers Heinrich Bacht hatte ich in einer Fußnote gelesen, dass es Briefe einer Bonner Lehrerin namens Wilhelmine Ritter gebe. Sie hatte eine Mädchenschule begründet; ihre Leiterinnen hatten sich nach dem Ersten Vatikanischen Konzil zur alt-katholischen Bewegung gezählt. Die Briefe Wilhelmine Ritters lagen laut Angabe des Autors in Köln, im damals noch dort untergebrachten Archiv der Jesuiten. So machte ich mich denn eines Tages nach Köln auf.

Ich ging mit einem komischen Vorgefühl nach Köln. Der Pater Bibliothekar hatte bereits den betreffenden Nachlass ausgebreitet, der mehrere Kisten und Schachteln umfasste. Aber der betreffende Umschlag war leer! Es gab diese Briefe, das wusste ich. Ich sagte es auch dem Bibliothekar und suggerierte, dass die Briefe vielleicht noch bei dem inzwischen verstorbenen Jesuitenpater liegen könnten. Der Bibliothekspater wies dieses Ansinnen von sich. Eine Mischung aus Enttäuschung und Ärger bestimmte mich. Mein Bauchgefühl war richtig gewesen. Ich beschloss, noch ein wenig in den Schachteln zu schauen, um nicht ganz vergebens gekommen zu sein.

Eine halbe Stunde später kam der Pater Bibliothekar, hieß mich ihm ins Archiv zu folgen, wo sonst nur er Zutritt hatte. Vor meinen Augen packte er dann Stück für Stück den Nachlass von Heinrich Bacht aus (dieser war noch gesperrt, da Pater Bacht erst wenige Jahre zuvor verstorben war) – und ja, siehe da, dort fand sich ein brauner Umschlag mit den etwa 70 Briefen der Wilhelmine Ritter.

Sofort machte ich mich dran, den Umschlag durchzusehen. Schnell erkannte ich, dass mich die Lektüre dieser Briefe, so gestochen sie auch geschrieben waren in der Handschrift des 19. Jahrhunderts, einige Zeit kosten würde. Ich war viel zu ungeübt, sie einfach so zu lesen. Es dämmerte mir, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Ich beendete meine Arbeit im Archiv, ging zur nächsten Telefonzelle an einer Straßenecke, rief meinen Mann an und schilderte ihm die Situation.

Ich sagte ihm, dass ich überlege, das Thema meiner Dissertation stante pede zu ändern. Seine lakonische Reaktion: Er habe sowieso den Eindruck gehabt, ich komme mit dem bisherigen Thema nicht wirklich voran. Andere, die ich befragte, rieten mir vom Wechsel ab: Meine Anstellung sei befristet. Doch mein Entschluss stand fest: Wer, wenn nicht ich, sollte sich diesen Briefen und diesem Thema widmen? Ich habe es keinen Augenblick bereut, die Geschichte dieser Mädchenschule und ihrer Bedeutung für die Frühphase des deutschen Altkatholizismus aufzuarbeiten. Es ergab sich zudem, dass meine Anstellung aus einem anderen Grund verlängert werden konnte. Am 25. September 1998 verteidigte ich meine Doktorarbeit an der Universität Nijmegen.

Absprachen mit mir selbst

Auf dem Weg zur Promotion fand ich in der feministischen Theologin Hedwig Meyer-Wilmes, die von 1986 bis 2008 feministische Theologie an der heutigen Radboud-Universität Nijmegen lehrte (damals hieß sie noch Katholieke Universiteit Nijmegen), und dem systematischen Theologen Hermann Häring, einem Schüler Hans Küngs, eine wichtige Gesprächspartnerin und einen wichtigen Gesprächspartner. Regelmäßig trafen wir uns, um einzelne Kapitel der Arbeit zu besprechen. Für mich als Alt-Katholikin war es wichtig, mit zwei offenen und kritischen römisch-katholischen Theologen zu sprechen und dabei ihre Wahrnehmung historischer Entwicklungen und Differenzen kritisch mit meiner eigenen abzugleichen. Ich habe sehr viel gelernt von den Rückfragen und der wohlwollenden Begleitung durch meine beiden „Doktoreltern“.

Meine Doktorarbeit ist eine Geschichte der Frühphase des deutschen Altkatholizismus nach dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1869/70, bei dem die päpstliche Vormachtstellung durch die Unfehlbarkeit und den Rechtsprimat des Papstes dogmatisch „festgeschraubt“ und für alle römisch-katholischen Gläubigen zur verbindlichen Glaubenslehre gemacht worden ist. Es gab viel Protest dagegen, was u. a. zur Entstehung der alt-katholischen Bewegung führte.

Mein Anliegen war es, aufzuzeigen, wo und in welcher Weise Frauen sich an der Konzilsprotestbewegung und in dem daraus entstehenden Katholischen Bistum für die Alt-Katholiken und Alt-Katholikinnen beteiligt hatten. Dies geschah – aufgrund der damaligen Rechtsstellung von Frauen – weniger bei öffentlichen Erklärungen und Versammlungen. Frauen brachten ihre alt-katholische Haltung auf weniger öffentlich sichtbare Weise, jedoch nicht weniger nachhaltig zum Ausdruck. Die Briefe Wilhelmine Ritters, für deren Lektüre und Abschrift ich einmal pro Woche ins Archiv pilgerte, waren wie der Anfang des Fadens der Ariadne. Ich fand immer mehr Frauen und immer mehr über sie heraus. Die Quellen öffneten sich und ich hatte Feuer gefangen an meinem Thema.

Das ist auch heute noch meine wichtigste Einsicht: Wer drei bis vier Jahre mit einem Thema verbringen will, muss darin einen Sinn erkennen, ja vielleicht sogar eine starke Beziehung dazu entwickeln. Ich habe dieses Feuer gebraucht, das mich immer wieder zu den Quellen und an die Arbeit zog und neben all den anderen Aufgaben und Beschäftigungen mehr und mehr Priorität gewann.

Worin lag für mich der Sinn dieses Unternehmens? Ich merkte, dass ich mit der Aufdeckung der Geschichte der „alt-katholischen Mütter“ (davor war immer nur die Rede von den „alt-katholischen Vätern“ gewesen) des 19. Jahrhunderts auch meine eigene Geschichte als heute lebende Alt-Katholikin aufarbeitete.

Ich habe damals auch viel über mich und meine Weise zu arbeiten gelernt: Wenn ich intensiv an einem Artikel oder einem Buch arbeite, brauche ich Freiraum, den nur ich selbst mir schaffen und nehmen kann. Als ich meine Doktorarbeit schrieb, waren die Kinder klein; deshalb arbeitete ich oft ab 8 Uhr abends, wenn die Kinder im Bett waren, sehr konzentriert an meiner Dissertation. Die Kinder sind inzwischen lange aus dem Haus; als Professorin für Geschichte des Altkatholizismus und Allgemeine Kirchengeschichte in Bern habe ich viele Aufgaben, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Heute brauche ich solche Freiräume immer noch, wenn ich neue Fragen und Fragestellungen entwickeln will. Freiräume sind dabei wie Absprachen mit mir selbst, die ich einhalten muss und will.


3. Staffel: „Frau Doktor“ geht weiter!

Die 3. Staffel unserer Serie „Frau Doktor“, in der Theologinnen von ihrem Weg zum Doktortitel berichten, geht weiter. Wie hat sie ihr Promotionsthema durch das weitere Berufsleben begleitet? Hat sich die Anstrengung gelohnt?

Im Fokus der Theologie stehen viel zu häufig alte und tote Männer, noch immer trauen sich Mädchen und Frauen eine Promotion weniger zu als gleichaltrige Jungen und Männer. Wir wollen auch die Herausforderungen für Frauen in der Wissenschaft nicht ausblenden. Deshalb kommen sie hier zu Wort.

Bisher erschienen:

Folge 1: Dr. Teresa Tenbergen – Can a song save your life?
Folge 2: Dr. Andrea Hofmann – Horizont in Sicht
Folge 3: Dr. des. Claudia Kühner-Graßmann – Frauensolidarität darf hier nicht aufhören!
Folge 4: Dr. Christiane Renner – Dr. theol. Christiane
Folge 5: Dr. Maike Maria Domsel – Zwischen den Welten
Folge 6: Dr. Annika Schreiter – Eine Zeit der Weichenstellungen
Folge 7: Julia Rath – Diversität in der Wissenschaft
Folge 8: Katharina Leniger – Versöhnung im Knast
Folge 9: Dr. Cordula Heupts – Auf den Spuren der Herrlichkeit Gottes
Folge 10: Dr. Margot Käßmann – „Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wagt es!“