Kirche

Als Katholik auf dem Kirchentag

Als Mitarbeiter in der Multimedia-Redaktion war Louis Berger als teilnehmender Beobachter auf dem Kirchentag in Nürnberg. Will der Kirchentag nicht als „anachronistische Attraktion“ enden, muss er sich verändern.

Auf dem „Markt der Möglichkeiten“ des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentags waren zahlreiche Kuriositäten zu bestaunen. So lud die katholische Laienorganisation „Legio Mariae“ die mehrheitlich evangelischen Besucher*innen an ihrem Stand zum Rosenkranzknüpfen ein. Trotz der Begeisterung einiger Pfadfinder*innen für die bunten Perlen wirkte dieser Auftritt etwas altmodisch. Kleine Reproduktionen des Gnadenbilds vom Barmherzigen Jesus lagen herum, die Wundertätige Medaille wurde zum Mitnehmen verschenkt und ein älterer Herr begrüßte die neugierigen Besucher*innen in freundlichem Bayerisch.

Ganz anders wollte der Kirchentag als Ganzes bei den Besucher*innen und in der Öffentlichkeit ankommen: Die Verantwortlichen hatten ein Programm entworfen, das drängende Fragen des Glaubens diskutieren sollte. An vielen Stellen ging das auf: Die „Halle überfüllt“-Schilder waren häufig zu sehen, die Bibelarbeiten mit illustren Gästen zogen viele Menschen an und das Konzertprogramm war beliebt. Kurzum: Das „Kirchentagsgefühl“ stellte sich ein.

Andererseits irritierte mich als katholisches Mitglied der Multimedia-Redaktion des Kirchentags auch Einiges. Der Kirchentag ähnelte in seiner teils anachronistischen Gestaltung auf unheimliche Art und Weise dem Stand der „Legio Mariae“. Ich fasse diese Unruhe im Folgenden zusammen, erhebe damit aber weder einen Anspruch auf Objektivität noch auf Vollständigkeit. Meine Zeilen können vielmehr als solidarische Kritik verstanden werden, die ich in ökumenischer Sorge um die Zukunft dieser und ähnlicher Veranstaltungen übe.

Die Zahl der Besucher*innen mit Ticket (70.000) blieb hinter den Erwartungen zurück. Auch wenn der Kirchentag keinen derart starken Einbruch wie der Stuttgarter Katholikentag 2022 verkraften musste, lässt sich dieser Rückgang nicht restlos durch die Corona-Pandemie erklären. Denn das Bedürfnis nach persönlichen Begegnungen ist ungebrochen. So nahmen etwa an der diesjährigen Aachener Heiligtumsfahrt in 11 Tagen 110.000 Menschen teil.

Wer unterschiedliche Veranstaltungen des Kirchentags besuchen durfte, kommt zu einer anderen Erklärung: Es existiert ein Kirchentagspublikum, das mit dem Kirchentag sozialisiert wurde, diesen noch heute als Teil seiner Identität begreift und offenbar zunehmend unter sich bleibt. Für Menschen, die nicht (mehr) einer evangelischen Kirche angehören oder gar keinen Bezug zum Christentum (mehr) haben, ist ein Besuch abseits der Veranstaltungen mit politischen Stargästen wenig reizvoll.

Zu viel Politik – zu wenig Kirche?

Vielfach wurde (wieder einmal) die angebliche „Hyperpolitisierung“ des Kirchentags beklagt: Zu viel Klima, zu viel Queerness, zu viel Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialismus. Während es der WELT-Journalist Frédéric Schwilden in einem merkwürdig abstrakten Artikel dabei beließ, die Konzentration auf „weltlich-moralische Themen“ zu beklagen, gingen rechte Twitter-Accounts und Kommentator*innen weiter: Über Pastor Quinton Ceasar brach eine Welle rassistischer Auslassungen herein, die seine an politische Theolog*innen wie Cornel West erinnernde Abschlusspredigt als letztgültigen Beweis einer „linksgrünen“ Übernahme der evangelischen Kirchen diffamierte.

Dabei gerieten andere Skandale und Probleme des Kirchentages aus dem Blick: Die unter dem prosaischen Titel „In bewegten Zeiten gemeinsam gestalten“ als „Gespräch“ angekündigte Veranstaltung mit Bundeskanzler Olaf Scholz am Samstagvormittag zum Beispiel. Da andere Diskutant*innen nicht eingeplant waren, blieb es den Fragen sammelnden Anwält*innen des Publikums überlassen, diesem „Gespräch“ den Anschein der Auseinandersetzung zu geben. Angesichts dieser wenig kontroversen Atmosphäre, verwunderte auch nicht, dass Moderatorin Tina Hildebrandt (ZEIT) dem Bundeskanzler zum Abschluss den Dank des Publikums für seine Bereitschaft aussprach, „heute uns hier Ihre Politik zu erklären“.

Manche*r mag einwenden, dass der Kirchentag diese Politiker*innen braucht, um seinen eigenen Anliegen größere Öffentlichkeit zu verschaffen. Nur: Zu welchem Preis? Letztlich wird der Kirchentag immer verlieren, wenn er sich durch Programmgestaltung und Moderation zum Agenten einer politischen „Erklärmaschine“ machen lässt, statt in kritischer Distanz mit Politiker*innen zu diskutieren.

Worauf deuten die „Zeichen der Zeit“?

Der Kirchentag will in die Welt hineinwirken. Aber: Ist das überhaupt möglich, wenn er sich einer Befragung der Institution verschließt, von der er trotz einiger institutioneller Unabhängigkeit nicht getrennt werden kann? Vielen Menschen leuchtet nicht mehr ein, warum die großen christlichen Kirchen in gesellschaftspolitischen Fragen moralische Autorität beanspruchen, die nicht durch ihre eigene Praxis gedeckt ist. Die Öffentlichkeit erwartet im Angesicht vieler Skandale inzwischen eine kritische Prüfung der kirchlichen Vergangenheit und gibt sich zu Recht nicht mehr mit symbolischen Akten zufrieden. Der Umgang des Kirchentags mit sexualisierter Gewalt verdeutlichte, dass diese Zeichen der Zeit noch nicht vollends verstanden wurden.

Bereits im Vorfeld nahm sich der scheidende Kirchentagspräsident De Maizière dieses Themas nur halbherzig an. So gestand er gegenüber der ZEIT zwar ein, dass „meine Kirche […] ganz klar ein Problem“ habe, relativierte dieses aber zugleich durch einen Vergleich mit der katholischen Kirche. Schließlich auf die geringe Anzahl an Veranstaltungen zu diesem Thema angesprochen, reagierte er unwirsch, die Tragweite eines Themas lasse sich nicht an der Anzahl der dazu angebotenen Veranstaltungen ablesen. Eine solche Interpretation sei „nicht zulässig“, erklärte er den Journalist*innen. Dass er eine ähnliche Argumentation zu den dringlichen Zukunftsfragen Klima- und Umweltschutz aufgeboten hätte, ist schwer vorstellbar.

Allerdings war auch das Interesse der Kirchentags-Besucher*innen am Thema begrenzt. So fanden sich am Samstagnachmittag in der weitläufigen Messehalle 4A zur Veranstaltung „Missbrauch beim Namen nennen“ nur wenige Menschen ein. Möglicherweise passte sexualisierte Gewalt für viele Besucher*innen doch nicht ganz zur häufig ausgelassenen, an ein Klassentreffen erinnernden Atmosphäre.

Diese Ignoranz wiegt umso schwerer, als der Kirchentag selbst eine Missbrauchsgeschichte hat, die sich zum Beispiel bei Jonas Seufert nachlesen lässt. Personen wie der Missbrauchstäter und ehemalige Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, traten immer wieder auf Kirchentagen auf. Diese unmittelbare Schuld lässt sich nicht mit einer Handvoll Veranstaltungen abtragen. Sie muss in allen Konfessionen tatsächlich beim Namen genannt, auf ihre jeweilige Art und Weise als nicht zu beschweigender Teil der Geschichte des Christentums begriffen werden.

Es geht auch anders!

Ein anderer Kirchentag schien im „Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen“ auf, dessen Veranstaltungen abseits der Messe im leicht abgelegenen Gemeinschaftshaus Langwasser stattfanden. Hier diskutierten am Freitagnachmittag unter dem provokanten Titel „,Trans*Hype!‘ – echt jetzt?“ die Bundestagsabgeordnete Tessa Ganserer (Bündnis 90/Die Grünen), die Medizinsoziologin Dana Mahr (Université de Genève), der Psychiater Tobias Müller und der Religionslehrer Theo Schenkel geschlechtliche Selbstbestimmung aus religiös-politischer Perspektive. Ohne näher auf den Inhalt dieses Gesprächs, das auch wirklich die Bezeichnung „Gespräch“ verdiente, einzugehen: Hier konnte man tatsächlich einen anderen Ton hören, wirklich einen anderen Umgang spüren. Dieser Runde gelang durch ihre bedachte Freundlichkeit genau jene andere Diskussionskultur, die Kirchentagspräsident De Maizière häufig nur beschwor.

Überdies war bemerkenswert, dass sich Christian Stäblein als Bischof der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) in einem angeschlossenen Zwiegespräch mit der Moderatorin Antje Schrupp kritischen Fragen zum Umgang der evangelischen Kirchen mit queeren Menschen stellte. Im Unterschied zur Diskussion um das Thema „Sexualisierte Gewalt“ machte sich die Institution auf diese Weise hier selbst zum Gegenstand und ließ mit Blick auf eine bessere Zukunft die Benennung eigener Fehler zu.

Wenn der Kirchentag nicht wie die „Legio Mariae“ als anachronistische Attraktion enden will, muss er den Mut aufbringen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das kann sowohl bedeuten die eigene Blase zu verlassen als auch wieder mehr Selbstbeschäftigung im Modus der Selbstkritik zuzulassen. Der Kirchentag könnte so ein ökumenisch wertvolles Beispiel sein: Der Katholikentag gastiert 2024 in Erfurt, also nicht in einer ausgesprochenen Hochburg der katholischen Kirche in Deutschland. Auch für seine Organisator*innen gäbe es aus Nürnberg 2023 viel zu lernen.


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