Analyse EKD-Synode 2024

Flucht nach vorn

In Würzburg berät die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland über Flucht und Migration sowie die Bewältigung der Missbrauchskrise. Außerdem stehen Wahlen auf dem Programm. Der Eule-Vorbericht:

Am morgigen Sonntag beginnt die diesjährige Tagung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Würzburg mit einem Gottesdienst, der ab 9:30 Uhr live im ZDF übertragen wird. Die Predigt wird Landesbischof Christian Kopp aus der gastgebenden bayerischen Landeskirche (ELKB) halten, der Gottesdienst wird von der Würzburger Pfarrerin Anna Bamberger (@pfarrerinanna) mitgestaltet. Nach diesem geistlichen Auftakt wird die EKD-Synode in die Beratungen einsteigen. Was steht in diesem Jahr an?

Als Schwerpunktthema der Tagung hat sich die Synode „Flucht, Migration und Menschenrechte“ erwählt. Auch die Missbrauchskrise und insbesondere die Folgen der im Januar 2024 erschienenen „ForuM-Studie“ (wir berichteten) werden die Synodalen beschäftigen: Am Montagnachmittag wird das Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt (BeFo) der Synode berichten. Außerdem stehen mit den Nachwahlen in den Rat – und der Bestätigung von Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck, Nordkirche) im Amt der EKD-Ratsvorsitzenden – wichtige Personalia an.

Ralf Meister weiterhin Leitender Bischof der VELKD, Befassung mit Flucht in globaler Perspektive

Bereits seit Freitag tagt die Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), deren Tagungen mit der EKD-Synode im sog. Verbindungsmodell verschränkt sind.  Am Freitagabend hatte die Generalsynode den Leitenden Bischof der VELKD, Ralf Meister, für eine dritte Amtszeit wiedergewählt. Drei weitere Jahre wird der Landesbischof der Hannoverschen Landeskirche die VELKD nun repräsentieren.

Im Vorfeld der Wahlen war darüber diskutiert worden, ob dies angesichts der massiven Kritik am Leitungshandeln Meisters im Kontext der Missbrauchskrise in seiner Landeskirche eine gute Idee ist. Meister wurde im Frühjahr von mehreren Betroffenen sexualisierter Gewalt der Rücktritt nahegelegt, auch viele Mitarbeiter:innen und Pfarrer:innen der Landeskirche übten Kritik in einem Schreiben, das zu mehreren Austauschrunden zwischen Meister, Kirchenamt und Kritiker:innen führte (s. hier, hier & hier in der Eule).

Der Bischofswahlausschuss allerdings schlug Bischofskonferenz und Generalsynode der VELKD Meister als einzigen Kandidaten vor. Die Synode wählte ihn mit knappen Ergebnis wieder (Ja: 28, Nein: 6, Enthaltungen: 5). Die erforderliche Mehrheit von 26 der insgesamt 50 Synodalen, von denen einige noch nicht an der Tagung teilnahmen, erreichte Meister nur knapp. Sowohl in seinem Bericht als Leitender Bischof der VELKD als auch in seiner kurzen Nominierungsrede erwähnte Meister die in seiner Landeskirche entstandenen Irritationen um seinen Umgang mit Betroffenen sexualisierter Gewalt und die Fehler der Hannoverschen Landeskirche bei Aufklärung und Aufarbeitung nicht.

Im Anschluss an seine Wiederwahl wurde Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt (Nordkirche) von der ad hoc direkt im großen Sitzungssaal „tagenden“ Bischofskonferenz in ihrem Amt als stellvertretende Leitende Bischöfin der VELKD bestätigt. Seit Dezember 2023 ist KKS auch Vorsitzende des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes.

Flucht und Migration und Menschenrechte

Ebenfalls am Freitagabend präsentierten zwei Mitarbeiter:innen von Refugio München in einem moderierten Gespräch auf dem Abend der Begegnung der VELKD-Generalsynode die Arbeit ihrer Kunstwerkstatt mit Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung. Seit 30 Jahren ist der Münchener Verein auf diesem Gebiet tätig. Die Arbeit des Vereins sei angesichts der oft schwierigen Situation von Kindern und Jugendlichen bei der Ankunft in Deuschland heute so wichtig wie nie. Die Lage in den Aufnahmezentren könne man als „institutionelle Kindeswohlgefährdung“ beschreiben, berichteten die Mitarbeiter:innen.

Der kurze Impuls am Abend passt ins Programm: Deutlich wahrnehmbar ist das Bedürfnis der Synode(n), sich zum brennenden Thema Flucht und Migration zu äußern – was in den vergangenen Jahren auch bereits reichlich geschehen ist. „Wir dürfen die Deutungshoheit nicht denen überlassen, die Ängste instrumentalisieren, die mit ihrem Populismus von der Angst leben, Komplexität leugnen und vielschichtige Sachverhalte in menschenverachtende Eindeutigkeit überführen wollen“, erklärte die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, die Wahl des Schwerpunktthemas.

Auf ihren Bericht vor der Synode am Sonntag darf man gespannt sein: In den vergangenen Monaten haben Heinrich und Begleiter:innen Flüchtlingshilfeeinrichtungen und Akteur:innen der Migrationspolitik überall in Deutschland und auch in Griechenland besucht. Die Präses informierte sich auf ihrer Tour u.a. über das Leben in Erstaufnahmeeinrichtungen, das Abschiebemonitoring in Nordrhein-Westfalen, die schwierige Situation des Kirchenasyls und in Griechenland über die Situation in den dortigen Aufnahmezentren. Angesichts der angestrebten neuen Migrationspolitik der Europäischen Union (GEAS) und der völlig entglittenen Migrationsdebatte in Deutschland ist das dringend notwendig.

Bereits im vergangenen Jahr warnte die damalige EKD-Ratsvorsitzende, Annette Kurschus, davor, Christ:innen in Sachen Flucht und Migration die Kompetenz abzusprechen und sie als „Idealisten“ abzustempeln. Vielmehr wären die Kirchen und ihre Wohlfahrtsorganisationen durch ihr viel tausendfaches Engagement auf dem Handlungsfeld die eigentlichen „Realisten“ in der Debatte.

Im Kontext des Auseinanderbrechens der bisherigen Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hat das Thema erneut an Bedeutung gewonnen: Im Bundestagswahlkampf droht eine Instrumentalisierung des Themas durch die rechtsradikale AfD und rechtspopulistische Politiker:innen anderer Parteien. Bereits die Ampel-Regierung hatte den Kurs in der Migrationspolitik deutlich verschärft, von einer neuen Bundesregierung unter Führung der Union werden weitere Maßnahmen in Richtung einer restriktiven Aufnahme von Geflüchteten erwartet. Die populistischen Stellungnahmen des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz (wir berichteten) sind nicht unbemerkt geblieben.

Bemerkenswert ist, dass der ursprünglich angedachte Titel des Schwerpunktthemas „Flucht und Migration“ unterjährig noch um den Begriff der Menschenrechte ergänzt wurde. „Als Kirchen werden wir weiterhin Schwache schützen und für die Menschenrechte von Geflüchteten eintreten“, erklärte dazu Anna-Nicole Heinrich. Ist ein Festhalten an einer menschenwürdigen und an den geltenden völkerrechtlichen Maßstäben orientierten Flüchtlings- und Migrationspolitik in diesen Tagen nicht bereits ein Zeichen dafür, dass die evangelische Kirche doch auf Hoffnung aus ist?

Bevor jedoch ein Wort von Gewicht zur aktuellen Migrationspolitik und Lage von Flüchtlingen in Deutschland, Europa und weltweit gesprochen werden kann, studieren die Synodalen die Lage: Akteur:innen aus der Flüchtlingshilfe, Entwicklungszusammenarbeit und von Kirchen aus afrikanischen Ländern helfen auf den Tagungen von VELKD und EKD dabei, die Komplexität der Herausforderungen zu verstehen. „Sie haben die Geschichten von Millionen unserer Brüder und Geschwister gehört und gesehen, die dazu gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen“, erklärte Reverend Lesmore Gibson von der All Africa Conference of Churches (AACC) den VELKD-Synodalen am Samstagvormittag: „Ich appeliere an ihre Einsicht!“ Gibson war einer von mehreren aus der weltweiten Ökumene zugeschalteten und zugereisten Referent:innen zum Schwerpunktthema auf der VELKD-Generalsynode.

Vor Beginn der Synodentagung kritisierte die Theologin Sarah Vecera von der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) in einem Gastbeitrag auf evangelisch.de, die EKD würde bei der Befassung mit Flucht und Migration weitgehend auf Stimmen aus der Migrationsgesellschaft verzichten. Damit wiederhole die Synode, was in der Evangelischen Kirche allgemein üblich sei: „Während evangelische Christ:innen […] behaupten, für alle Menschen da zu sein und jede:n willkommen zu heißen, tun sie dies gleichzeitig aus einer rein weißen Perspektive heraus und wenden sich von oben herab in gnädiger Nächstenliebe ihren Schwarzen Geschwistern zu.“

Zwar hole man die Expertise von Migrant:innen derzeit in einer Arbeitsgruppe des sog. Kammernetzwerkes der EKD ein, der sie selbst auch angehöre, erklärte Vecera, auf der EKD-Tagung selbst würden deren Perspektiven aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Am Samstagvormittag wurden die von Vecera als drängende Fragen ins Feld geführten Herausforderungen von Agency und Partizipation von People of Color (PoC) planmäßig auf der Tagung der VELKD-Generalsynode thematisiert.

Unterrepräsentiert auf der Tagung sind jedenfalls die Perspektiven von (Spät-)Aussiedler:innen, die Schätzungen zufolge 10 % der evangelischen Kirchenmitgliedschaft ausmachen. Die Spätaussiedler-Arbeit nimmt in einigen evangelischen Landeskirchen, u.a. der gastgebenden bayerischen Landeskirche, wenigstens noch ein wenig Raum ein. Über die Arbeit im Würzburger Stadtteil Heuchelhof mit Russlanddeutschen in schwieriger politischer Lage berichtete zuletzt ARTE in einer Dokumentation (s. #LatdH vom 9. Juni).

Missbrauchskrise evangelisch

In Folge der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ über sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie an Kindern und Jugendlichen im Januar 2024 (wir berichteten) wurde im Beteiligungsforum (BeFo) der EKD in Zusammenarbeit mit den Landeskirchen und den Organen der EKD ein umfangreicher Maßnahmenplan erarbeitet, der bisherige Bemühungen und neue Anstöße zusammenführt. Der Maßnahmenplan und die seit der Synodentagung von Ulm 2023 erreichten Fortschritte werden der EKD-Synode am Montagnachmittag erneut von Mitgliedern des BeFo vorgestellt.

Im BeFo arbeiten Betroffene sexualisierter Gewalt aus Kirche und Diakonie mit Beauftragten von Landeskirchen und Diakonie zusammen. Synode, Rat und Kirchenkonferenz der EKD haben sich darauf verpflichtet, alle Maßnahmen auf dem Handlungsfeld Sexualisierte Gewalt auf dem Wege der Mitberatung und -Entscheidung durch Betroffene im BeFo zu entscheiden (wir berichteten). Dieser Selbstverpflichtung haben sich die evangelischen Landeskirchen und die Diakonie Deutschland als Spitzenverband der Diakonischen Werke nach der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ angeschlossen. Doch was wurde in diesem Jahr erreicht?

Auf der Tagesordnung steht die Verabschiedung einer Novelle des Disziplinarrechts der EKD, die bereits von Rat und Kirchenkonferenz – also den beiden anderen kirchenleitenden Gremien der EKD neben der Synode – verabschiedet wurde. Nach der finalen Beschlussfassung auf der EKD-Synode in diesen Tagen steht dann die rechtliche und praktische Umsetzung in den 20 evangelischen Landeskirchen bevor.

Die Vernetzungs- und Informationsplattform „BeNe“ (BetroffenenNetzwerk), ein Online-Forum für Betroffene von Missbrauch und sexualisierter Gewalt, ist vor wenigen Wochen online gegangen. Die Plattform wurde im vergangenen Jahr ausführlich angekündigt. Ob die Plattform Betroffenen in evangelischen Kontexten wirklich bei der Orientierung im Dschungel der Ansprechstellen, juristischen Formulierungen und Dienstwege helfen kann, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Betroffene, die sich nicht im BeFo der EKD engagieren, haben die Plattform in den vergangenen Tagen bereits kritisiert.

Im Fokus stehen erneut auch die sog. Anerkennungsleistungen, mit denen die evangelischen Landeskirchen und die Diakonie das durch den Missbrauch und seine Vertuschung entstandene Leid der Betroffenen finanziell anerkennen. Noch immer gibt es keine bundesweit geltende einheitliche Regelung für die Anerkennungsleistungen. An einer solchen Rahmenordnung hat das BeFo, unter Mitberatung u.a. der leitenden Jurist:innen der Landeskirchen, in den vergangenen Monaten in der Arbeitsgruppe Anerkennung in zahlreichen analogen und digitalen Sitzungen gearbeitet.

Es darf darum verwundern, dass Rat und Kirchenkonferenz die Beschlüsse des BeFo nicht der Synode, sondern abermals den Landeskirchen in Form eines Stellungnahmeverfahrens zugeleitet haben. Eine neue Regelung für die Anerkennungsleistungen wird es daher frühestens im Frühjahr 2025 geben. Über den anvisierten Zuschnitt bestehend aus einer Pauschalleistung und einer individuellen Zumessung berichtete die Eule bereits zur Synodentagung 2023. Die amtierende Ratsvorsitzende Fehrs erklärte zuletzt in einem Interview im Nordkurier, an diesem Vorhaben festhalten zu wollen.

(Mit der evangelischen Missbrauchskrise befassen wir uns in der Eule ausführlich im Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.)

Personalia

Neben der inhaltlichen Arbeit stehen auf der Synodentagung auch Nachwahlen in den Rat der EKD an. Diese waren wegen der Rücktritte der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus (s. hier, hier, hier, hier, hier & hier in der Eule) im November 2023 und von Ratsmitglied Jacob Joussen zum Herbst 2024 (s. #LaTdH vom 11. August) sowie dem altersbedingten Rückzug von Kirchenpräsident Volker Jung (EKHN) notwendig geworden. Insgesamt müssen also 3 von 15 Ratssitzen neu besetzt werden.

Es kandidieren: Susanne Bei der Wieden, Kirchenpräsidentin der Reformierten Kirche, und Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), sowie die EKD-Synodale und Kirchengeschichtlerin Schwester PD Dr. Nicole Grochowina und die theologische Vorständin der Von Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld Andrea Wagner-Pinggéra. Wie bereits im Monatsrückblick „RE:“ des „Eule-Podcast“ als „Gute Nachricht des Monats“ erklärt, wird der Rat der EKD nach den Nachwahlen zum ersten Mal in seiner Geschichte daher mehrheitlich aus Frauen bestehen. Über die BewerberInnen hat Benjamin Lassiwe für die KNA geschrieben.

Während Susanne Bei der Wieden als gesetzt gilt, weil nach dem Ausscheiden von Kurschus dem Gremium keine profilierte Theolog:in und Kirchenleitende aus reformierter Tradition mehr angehört, werden auch dem Beauftragten der EKD für Flüchtlingsfragen Stäblein gute Chancen eingeräumt. Stäblein war bei der letzten regulären Ratswahl 2021 auf der turbulenten digitalen Tagung nicht in den Rat eingezogen (s. Live-Blog der Eule). Ihn in den Rat zu wählen, würde dem Schwerpunktthema der diesjährigen Synodentagung weiteres Gewicht verleihen. In den vergangenen Monaten hatte sich Stäblein verstärkt zum Beispiel der Verteidigung von Kirchenasyl und Seenotrettung gewidmet.

Ein massiver Aktivposten im Rat könnte auch Nicole Grochowina sein. Die polyglotte Schwester der Communität Christusbruderschaft Selbitz und Historikerin ist seit Jahren als versierte und tatkräftige Synodale bekannt. Dem Rat, dem es merklich an Durchschlagskraft fehlt, könnte ihre Mitarbeit auf die Sprünge helfen. Es geht schließlich um wesentlich mehr, als sich regelmäßig von Kirchenamt und Leitungskräften Bericht erstatten zu lassen.

Ist der Rat am Montagnachmittag wieder vollständig, wird am Dienstagvormittag „aus seiner Mitte“ eine neue Ratsvorsitzende gewählt. Aller Voraussicht nach wird dies die momentan amtierende Ratsvorsitzende Bischöfin Kirsten Fehrs sein. Andere Kandidat:innen haben sich nicht aufgedrängt und insbesondere auf dem Themenfeld Sexualisierte Gewalt erwarten sich ihre Kollegen im Bischofsamt und auch die Synode – wie üblich – von ihr Führungsstärke. Die wirklich wichtigen Zukunftsfragen können in einer evangelischen Kirche gleichwohl nicht allein Sache von Chef:innen sein.


Vom 8. bis 13. November berichtet Eule-Redakteur Philipp Greifenstein wieder von der Tagung der EKD-Synode. Alle Eule--Beiträge zur EKD-Synode 2024 in Würzburg finden sich hier.


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