Keine Angst, keine Verharmlosung und gemeinsame Verantwortung

Die Diskussion um die „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne vom Montag verdient eine Vertiefung: Was muss an evangelikalen Gemeinschaften kritisiert werden? Welche Verantwortung teilen evangelikale und liberale Christ:innen?

„Keine Angst vor den Evangelikalen!“ haben wir am Montag dieser Woche die aktuelle „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne von Daniela Albert überschrieben. Die Kolumne hat in den vergangenen Tagen für reichlich Gesprächsstoff gesorgt, worüber wir uns natürlich freuen. In den Diskussionen sind Fragen aufgetaucht, mit denen wir uns an anderer Stelle hier im Magazin immer wieder ausführlich befassen. Und die Anlass genug sind, das Gespräch im Anschluss an Danielas Kolumne weiter zu vertiefen.

Zunächst aber noch ein paar wenige Sätze zur Kolumne selbst: In ihrer Kolumne „Gotteskind & Satansbraten“ schreibt Daniela Albert, die als Familien- und Elterntherapeutin sowie Autorin arbeitet, bei uns seit April 2020 über das Leben mit Kindern und Jugendlichen in der Kirche, über Familien- und Bildungspolitik und gelegentlich auch über digitale Phänomene, die für Kinder und ihre Eltern relevant sind. Ihre inzwischen 33 Artikel gehören zu den am meisten kommentierten Beiträgen in der Eule. Das hohe Leser:innen-Engagement ist dabei (fast) unabhängig davon, ob ein „Gotteskind und Satansbraten“-Artikel von mehreren tausend oder einigen hundert Leser:innen „geklickt“ wird.

Nicht zuletzt hat unsere Familienkolumne auch dazu beigetragen, dass wir während der gerade für Familien und junge Menschen fordernden Corona-Jahre ihre Anliegen regelmäßig in den Vordergrund gerückt haben. Wir schätzen Danielas Artikel und ihre Podcast-Auftritte (hier & hier) sehr und „Gotteskind und Satansbraten“ bringt in all seiner Buntheit eine wichtige Facette in die Eule ein.

Manche Leser:innen haben in Danielas aktueller „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne die Befassung mit Problemen der evangelikalen Bewegung vermisst: Sexueller und geistlicher Missbrauch, politische Instrumentalisierung, Rechtsradikalismus und Antisemitismus sowie Diskriminierung von LGBTQI*. Wir haben diese Probleme im Blick, auch wenn sie natürlich nicht in jedem einzelnen Beitrag eine Rolle spielen (müssen), der sich um christliches Alltags- und Gemeindeleben dreht – auch nicht um das von evangelikalen oder in einem weiten Sinne „frommen“ Christ:innen.

Übrigens hat Daniela einige dieser Probleme in anderen „Gotteskind und Satansbraten“-Artikeln bereits besprochen. Eine einzelne Kolumne erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will zum Nachdenken anregen. Das ist Daniela auch diesmal wieder gelungen. Was die provokante Überschrift angeht: Die war eine redaktionelle Entscheidung, die auf meine Kappe geht.


Und das bringt mich nahtlos zur angekündigten Vertiefung der Debatte. Ich habe nämlich keine Angst vor Evangelikalen, hatte auch nie welche. Das liegt natürlich und vor allem daran, dass ich unter Evangelikalen nie (in einem engeren Sinne) gelitten habe. Einige Kommentator:innen hier in der Kommentarspalte des Magazins und in den Sozialen Medien haben im Anschluss an die Kolumne vom Montag auf persönliche Verletzungen in evangelikalen Kontexten hingewiesen. Nichts davon ist wegzudiskutieren und soll oder könnte durch Hinweise auf positive Aspekte evangelikaler Frömmigkeit relativiert werden.

Vor Evangelikalen keine Angst zu haben ist insofern ein Luxus. Meine ersten Kontakte zu Menschen in der evangelikalen Bewegung hatte ich als Jugendlicher. Es waren derer nicht wenige, aber zu jedem Zeitpunkt war ich in der Rolle eines teilnehmenden Beobachters und eben nicht zum Mitmachen, Mitleben oder gar Miterleiden gezwungen. Als junger Christ hatte ich Freunde, die sich selbst als evangelikal und/oder bibeltreu verstanden, und als Mitglied einer Jungen Gemeinde, die ziemlich bunt verschiedene (allzumal ungeklärte) Frömmigkeiten vereinte, gab es auf gemeinsam besuchten Veranstaltungen und Jugendfreizeiten reichlich Berührungspunkte. Ich erinnere Momente der Fremdheit, auch ein (damals noch unbestimmtes) Bauchgrummeln, viel Widerspruch in mir gegen bestimmte Inhalte der Verkündigung.

Dazu gehörte für mich als abständigen Gast dezidiert nicht, was evangelikale Prediger oder JugendleiterInnen über Sex zu sagen hatten (ich finde die Engführung, die Daniela in ihrer Kolumne vorgenommen hat, trotzdem zielführend, weil diskussionsanregend). Was Evangelikale über „Kein Sex vor der Ehe“, Selbstbefriedigung und whatever zu sagen hatten, kam für mich schlicht nie in Frage. Ich gestehe, dass ich die deutlich wahrnehmbare Fixierung auf die Sexualität von jungen Menschen damals vor allem für überflüssig und verklemmt gehalten habe. Das gefährliche und gefährendende Potential einer solchen Sexuallehre kann man mit 14 oder 15 natürlich nicht ermessen. Das macht sie umso gefährlicher, weiß ich heute.

Ich erinnere mich an einen Workshop „Sexualität für Jungen“ auf einem evangelikalen Jugendcamp (es gab natürlich, fein säuberlich getrennt, auch einen Workshop für Mädchen), den ich in Begleitung meiner beiden besten Freunde besuchte – vermutlich, weil wir im 3D-Karten-Bastel-Workshop nicht mehr willkommen waren und so eine Camp-Woche sich ja auch zieht. Wir fanden den Referenten recht affig in seiner Klemmi-Haltung, die er uns als betont entspannten Umgang mit der eigenen Sündhaftigkeit verkaufen wollte. Wir Drei hatten wohl fromme, aber keineswegs evangelikale Elternhäuser, und waren nicht allein in vielfältigen christlichen Frömmigkeiten, sondern auch in – wie Evangelikale sie gerne nennen: säkularen – anderen Jugendkulturen zu Hause.

Keine Angst, aber Vorsicht

Viel häufiger begegnete mir und viel bedenklicher empfand ich die generelle Betonung von persönlicher Schuld, die scheinbar die einzige relevante Dimension von Sünde war, die in evangelikaler Verkündigung eine Rolle spielte. Wesentlich enervierender als ein persönlich verkündeter Anspruch, vor der Ehe keinen Sex zu haben, fand ich die allgegenwärtige Erwartung, sich in geistliche Hochstimmung zu bringen. Thorsten Dietz hat das in einer der Facebook-Diskussionen zur „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne vom Montag treffend „besondere Intensität der Frömmigkeit“ und „das Anstreben emotionaler Verdichtung des Glaubensgefühls“ genannt. Ich erlaube mir heute wie damals den Hinweis, dass eine besondere Intensität der Frömmigkeit nicht mit einer besonders intensiven öffentlichen Darstellung derselben verwechselt werden sollte.

Was ich damals als gezwungen empfand, wurde mir gleichwohl nicht aufgezwungen. Ich und andere Jugendliche, die der Emphase eher distanziert gegenüberstanden, konnten uns ihr jederzeit entziehen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Natürlich gab und gibt es Gruppendruck, dem insbesondere Jugendliche schwer ausweichen können. Im Rückblick bin ich dankbar für eine mir – von wo auch immer – zugewachsene Resilienz gegenüber Vereinnahmungen (nicht nur in „frommen“ Kontexten) – und ich war damals eben nicht allein.

In den 2000er-Jahren war ich beobachtender Teilnehmer der bisher letzten Hochphase evangelikaler Jugendarbeit, in der neben den altbekannten Hardlinern auch schon andere durchaus evangelikale, aber anders akzentuierte Akteur:innen unterwegs waren. Es machte schon einen Unterschied, ob die Bekehrungspredigten von einem Lutz Scheufler oder einem Gofi Müller gehalten wurden – auch wenn im Anschluss selbstverständlich „unters Kreuz“ gerufen wurde. Die Neuakzentuierung allerdings äußerte sich viele Jahre nicht in Form einer gründlichen evangelikalen Selbstkritik, sondern schlicht darin, dass sich Evangelikale andere Themen als Sex suchten.

Meine Kontakte mit evangelikalen LeiterInnen und evangelikalen Altersgenoss:innen, die intensiven und endlosen Diskussionen sowie das manchmal harmonische, manchmal konfliktuöse gemeinsame Gemeindeleben haben in mir nicht Unsicherheit bewirkt, sondern zur Klärung meiner eigenen Frömmigkeit und Schärfung eigener, selbst verantworteter theologischer Überzeugungen beigetragen. Bedingung dafür war eine große innerliche und äußerliche Freiheit, mit der ich mich in evangelikale Kontexte hineinbegeben konnte. Von diesem, meinem persönlichen Standpunkt aus kann ich anerkennen, dass evangelikale Christ:innen eine „besondere Intensität der Frömmigkeit“ in Formen des Glaubens erleben, die mir nichts geben. Und auf diesem Standpunkt stehend kann ich sagen, dass ich keine Angst vor Evangelikalen, ihren Frömmigkeitsformen, ihrer Bibelauslegung und ihren Argumenten habe.

Die Probleme der Evangelikalen

Eine weitere Folge meines, durch eine Jugend in der Jungen Gemeinde bewirkten, Lebens am Rande der evangelikalen Bewegung ist natürlich das bis heute bleibende Interesse am Schicksal der Evangelikalen und ihren Gemeinschaften. Für einen Nicht-Evangelikalen wie mich ist es äußerst untypisch, sich immer wieder intensiv mit aktuellen Problemen und Ereignissen der evangelikalen Bewegung zu befassen. Nicht zuletzt, weil sie in Deutschland zwar recht umtriebig, aber zahlenmäßig im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und Kirchenmitgliedschaft klein ist. Man kann die Evangelikalen leicht ignorieren, und die meisten Christ:innen und erst recht Mitbürger:innen machen das ja auch.

Ich habe mich in den vergangenen fast zwanzig Jahren immer wieder auch öffentlich und publizistisch – zunächst bei theologiestudierende.de und auf meinem Blog, seit 2017 hier in der Eule – mit den Evangelikalen, ihren Gemeinden und Unternehmungen befasst (z.B. hier, hier, hier & hier). In diesen Beiträgen geht es vor allem um die Probleme und Gefahren, die evangelikale Gemeinschaften haben oder die von ihnen ausgehen.

Es versteht sich von selbst, dass es trotz dieser Phänomene auch Menschen gibt, die glücklich in einer evangelikalen Gemeinde leben. Und doch melden sich nach jedem meiner „Ausflüge“ in die evangelikale Welt versehrte, verletzte und unmittelbar sowie mittelbar betroffene Menschen bei mir und der Eule-Redaktion. Genauso wie diese Woche im Nachgang der Kolumne von Daniela. Neben reichlich Kritik aus den ins Visier geratenen Kreisen erreicht uns immer auch ein Schwung von Rückmeldungen, in denen sich Menschen für die Berichterstattung und Analysen bedanken und auf weitere Probleme hinweisen. Nur einem Bruchteil davon können wir überhaupt nachgehen.

Um diese – die evangelikale Bewegung ins Mark treffenden – Probleme wissen auch viele evangelikale Akteur:innen. Der Schwund in der Jugendarbeit, noch mehr bei jungen Erwachsenen (gerade in der Familiengründung) ist offensichtlich. Wie auch die evangelischen Landeskirchen (aber aus anderen Gründen) leiden viele evangelikal geprägte evangelische Freikirchen unter einer massiven Überalterung. Hier wie dort wird als Heilmittel nicht selten eine noch weiter verschärfte Eventisierung und Vermarktung angepriesen, die gleichwohl deutlich geringeres institutionelles Commitment und Bekenntnisfestigkeit zeitigt. Auf beides können evangelikale Gemeinschaften nicht verzichten, wenn ihnen an ihrem Fortbestand gelegen ist.

Einen nicht geringen Anteil der (Wieder-)Eintritte in die evangelischen Landeskirchen (immerhin ca. 20 000 im Jahr) machen wohl Ex-Evangelikale und Evangelikale aus, die sich der Enge ihrer Kinder- und Jugendkirchen entziehen wollen. Das macht – Daniela hat genau das am Anfang ihrer Kolumne angesprochen – einigen landeskirchlichen Akteur:innen Sorge: Die Landeskirchen werden kleiner und (ein wenig) „frömmer“. Wie umgehen mit Menschen, die sich bewusst für die Landeskirche entscheiden, aber doch evangelikal glauben? (Hinweis: Die Mehrzahl der evangelikalen Christ:innen in Deutschland ist seit jeher Mitglied in evangelischen Landeskirchen.)

Wer sich heute für ein Berufsleben im Pfarramt, als Religionslehrer:in, Sozialarbeiter:in oder Gemeindepädagog:in entscheidet, hat mit noch größerer Wahrscheinlichkeit als vor zehn oder zwanzig Jahren einen evangelikalen Background, berichten mir Lehrende an Universitäten und kirchlichen Ausbildungsstätten. In einer Facebook-Diskussion zur Kolumne vom Montag wurde meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, dass manche Ex- bzw. Post-Evangelikale, auch wenn sie ihre Meinungen zu bestimmten Themen (besonders zur Anerkennung von LGBTQI*) geändert haben, doch in einem „evangelikalen Mindset“ verharren, das aus „Sendungsbewußtsein, Leidenschaft, Moralismus“ bestünde. Ich füge hier gerne noch den Zwang an, sich permanent im Gegenüber zur Mehrheitsgesellschaft zu empfinden, ausgesondert als ein „heiliger Rest“, immer Avantgarde.

Diese und andere Bewegungen innerhalb des Christentums lassen sich mittels der Religionssoziologie schlüssig erklären, stellen die Akteur:innen vor Ort aber vor je verschiedene neue Herausforderungen. Gleichzeitig setzen sich altbekannte Debatten fort , etwa um das richtige Verständnis der Bibel, gelegentlich unter Verwendung eines neuen Vokabulars. Genau vor diesem Problemfeld empfinde ich Danielas Kolumne vom Montag als wertvoll, denn um mit diesen Herausforderungen umzugehen, bedarf es vertrauensbildender Maßnahmen zwischen denjenigen evangelikalen Akteur:innen, die gesprächsbereit sind, und jenen sog. Liberalen, die ihrem Gesinnungswandel skeptisch gegenüber stehen.

Gemeinsam streiten und lernen

Es gibt sie ja, die (post-)evangelikalen Akteur:innen, die sich herzlich bemühen, einen nicht geringen Teil evangelikaler Frömmigkeit und Theologie wertschätzend bewahrend in eine notwendige Transformation mit hinein zu nehmen. Die evangelikale Bewegung kann sich in meinen Augen nur glücklich schätzen, wenn im „Worthaus“ und von Akteuren wie Thorsten Dietz, Tobias Faix und Michael Diener Vermittlungsangebote gemacht werden. Mit diesen wird immerhin ein Teil der sich vom Evangelikalismus verabschiedenen Menschen erreicht.

Nicht wenige Post-Evangelikale verabschieden sich nämlich – nach einer intensiven Suchbewegung – in die Nicht-Mitgliedschaft und/oder den Agnostizismus. Ich finde das immer schade, weil es mir eine Folge des Zwangs zum Glauben und nicht selten eine Konsequenz der eigenen Betroffenheit von (mindestens) geistlichem Missbrauch zu sein scheint. Wer das nicht bedauerlich findet, sondern sowohl den Übertritt in eine andere, progressive Kirche als auch den Verlust der Kirchenbindung unterschiedlos einen „Abfall vom Glauben“ nennt, steckt tief drinnen im binären Denken, das für Evangelikale so typisch ist.

Die evangelischen Landeskirchen – auch hier scheint mir Daniela Recht zu haben – haben in Menschen, die sich manchmal zaghaft, manchmal begeistert in sie hinein begeben, einen großen Schatz zu heben. Nicht wenige von ihnen sind ja ohnehin „von Geburt an“ irgendwie dabei gewesen. Die Landeskirchen bieten ihnen eine größere Freiheit in Theologie und Frömmigkeitskultur(en), die gleichwohl in Gefahr steht, sich in Beliebigkeit und Indifferenz aufzulösen. Ein Schwung von Leuten, die aufrichtig nach einem lebendigen und lebbaren Glauben fragen, kann ihnen sicher nicht schaden.

Die lebendigen Diskussionen im Nachgang der „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne vom Montag zeigen, dass insbesondere Menschen, die auf der Schwelle stehen, Gesprächsbedarf sehen. Sie zeigen auch, dass Menschen, die ihren Glauben (sehr) ernst nehmen, Fragen haben, die dringend und weiterhin ein Forum brauchen. Wir können, davon bin ich überzeugt, vom wechselseitigen Austausch zwischen Menschen unterschiedlicher biographischer Zugänge nur profitieren. Aber …

Missbrauch: Nicht allein ein Problem der Evangelikalen

Zum Schluss möchte ich noch auf ein Thema eingehen, das in den Diskussionen über die Kolumne eine prominente Stellung eingenommen hat: Den Missbrauch religiöser Autorität und seine Folgen bzw. Ausprägungen bis hin zu sexualisierter Gewalt. Neben den anderen adressierten Problemen des Evangelikalismus stellt er ganz gewiss ein zentrales Problem dar. Ich komme deshalb noch einmal auf ihn zurück, weil er anders als Verschwörungsgläubigkeit, Rechtsradikalismus und LGBTQI*-Verachtung nicht vor allem ein Problem der evangelikalen Bewegung ist, sondern auch in progressiven und sog. liberalen Frömmigkeiten.

Vergangene Woche war ich für einen Vortrag zu „Sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche“ bei der Evangelischen Akademie Sachsen eingeladen. Das Themenfeld „Missbrauch evangelisch“ ist seit 2019 ein Schwerpunkt der Eule. Eine für liberale und progressive evangelische (wie katholische) Christ:innen immer wieder schwer zu verdauende Erkenntnis der Forschungen zu sexualisierter Gewalt ist, dass Täter sich eben ganz und gar nicht nur in den ohnehin als problematisch angesehenen engen, stickigen Frömmigkeiten des Evangelikalismus und/oder Traditionalismus bewegen, sondern dezidiert als Befreier von Konservatismen, Zwängen und „Verklemmungen“ inszenieren.

Der hyper-engagierte, charismatische Leiter, der im Haupt- oder Ehrenamt Kontakt zu Kindern und vor allem jugendlichen Jungen und Mädchen findet und ihr Vertrauen gerade im gemeinsamen Widerstand zu „verkrusteten“ und traditionellen Formen gewinnt, ist inzwischen aus gutem Grund als typisch evangelisches Täterprofil (im Gemeindekontext) identifiziert. Gedeihliches Umfeld des Missbrauchs kann im evangelikalen Spektrum die geistliche Enge und der Zwang zum Gehorsam sein, in „stink-normalen“ landeskirchlichen Gemeinden hingegen ein entspannter Laissez-faire, der sich betont zeitgemäß fortschrittlich gibt. Es gibt beim Thema Missbrauch schlicht keinen Anlass für Progressive und Liberale, sich über ihre evangelikalen Geschwister zu erheben.

In der Diskussion nach meinem Vortrag stellte eine Teilnehmerin die sehr kluge Frage, was angesichts dieses vielfältigen Bildes die Verantwortung der Evangelischen Kirche sei. Ich meine: Nicht nur haben die evangelischen Landeskirchen die Verantwortung, geistlichen und sexuellen Missbrauch in den eigenen Gemeinden und Organisationen umfassend aufzuklären, Betroffene zu entschädigen und Prävention und Interventionsinstrumente zu schärfen, sie tragen als weitaus größere und ressourcenstärkere Organisationen auch Mit-Verantwortung für die evangelischen Freikirchen.

Wer für sich in Anspruch nimmt, für die Evangelische Kirche zu sprechen, kann dem nicht ausweichen. Nicht nur sind die Landeskirchen und ihre Diakonie auf vielfältige Weise institutionell und praktisch mit freikirchlichen Werken und Gemeinden verbunden, sie tragen als Haupteigner am Label „evangelisch“ Verantwortung. Die Bekämpfung von Missbrauch in seinen verschiedenen Facetten und Dimensionen ist eine Aufgabe, vor der alle Christ:innen stehen.

Im deutschsprachigen Raum waren es übrigens vielfach Betroffene und Akteur:innen aus Freikirchen mit einer starken evangelikalen Prägung, die sich zuerst Gedanken darüber gemacht haben, wie eine sichere Gemeinde für Kinder und Frauen ausschauen kann (s. Eule-Interview von 2018 mit Christian Rommert aus dem BEFG). In der Diskussion unter ihrer Kolumne hat Daniela einen Satz geschrieben, den ich vollumfänglich unterschreiben kann: „Beide Seiten brauchen sich gegenseitig, zur Inspiration, aber auch als Korrektiv.“


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